Wind, Flaute oder Sturm

Kirche auf Kriegskurs? Frieden schaffen – doch mit Waffen?

Mit Fragezeichen: Frieden schaffen – doch mit Waffen?

Frieden schaffen – doch mit Waffen?

Trägt die Friedensethik der Evangelischen Kirche noch?


Vortrag zur Friedensethik angesichts des Krieges in der Ukraine von Nikolaus Schneider am 17. Oktober 2022 in der Johanneskirche Essen

I. Vorworte
II. Die Friedensdenkschrift der EKD von 2007: Frieden fördern, erhalten und schaffen mit weniger Woffen!
III. ‚Neue‘ Fragen an die Friedensethik: Ist der Ukraine-Krieg eine Zeitenwende für eine realistische und alltagstaugliche Friedensethik?
IV. Trägt die Friedensethik der Evangelischen Kirche auch angesichts des Ukrainekrieges? Grundsätzliche Anmerkungen zur theologischen Ethik und drei begründete Thesen zum Diskutieren und Weiterdenken
V. Schlussworte


I. Vorworte

„Pazifismus hat auf einmal eine dunkle Seite, und das Friedenslied steht gerade verdammt quer in der Landschaft“ -so titelte die Süddeutsche Zeitung angesichts des Ukrainekrieges einen Artikel mit und über Hermann van Veen. Hermann van Veen, Jahrgang 1945, erklärt in diesem Artikel:

„Ich hatte Glück. Ich bin von nach dem Krieg. Und ich hoffe, dass das so bleibt.“

Und rückblickend auf seine inzwischen 57-jährige Karriere als politischer und friedensbewegter Liedersänger bekennt er:

„Bei Trump hab ich gedacht: Kann doch wohl nicht wahr sein. Bei Assad hab ich das Gleiche gedacht. Beim Brexit hab ich das gedacht. Bei Putin hab ich das gedacht. Und ich hab mich viermal gigantisch geirrt.”

(SZ Nr.99, 30. April/1. Mai, Seite 3)

Diese Hoffnung und diese Irrtümer Hermann van Veens können sich wohl viele von uns zu eigen machen.

Am 24. Februar dieses Jahres hat der russische Präsident Putin den Befehl zu einem verbrecherischen Angriffskrieg gegen die Ukraine erteilt.

Seit dem 24. Februar setzen wir uns täglich den Nachrichten und Bildern vom Wüten des Krieges in der Ukraine aus. Die Bilder sterbender, toter und trauernder Menschen in den Ruinen der umkämpften Städte und Dörfer in der Ukraine bedrängen und bedrücken uns. Atomares Säbelrassen von Putin und russische Angriffe auf die Atomkraftwerke der Ukraine ängstigen uns. Und in unserem Land werden wir konfrontiert mit ‚realpolitischen‘ Forderungen und Konsequenzen, die für uns ganz neu das Fragen nach einem „richtigen“ und einem „guten“ Entscheiden und Handel in Kriegszeiten aufwerfen:

Ist es richtig und gut, den Angegriffenen Waffen für ihre Selbstverteidigung zu liefern? Auch dann, wenn der Angreifer Atomwaffen besitzt?

Diese Frage stellt auch unsere evangelische Friedensethik vor ein Dilemma. Der Philosoph Jürgen Habermas beschrieb dieses Dilemma in der Süddeutschen Zeitung vom 29. April 2022:

„Das Dilemma, das den Westen zur risikoreichen Abwägung im Raum zwischen zwei Übeln – einer Niederlage der Ukraine oder der Eskolation eines begrenzten Konflikts zum dritten Weltkrieg – nötigt, liegt auf der Hand.

Einerseits haben wir aus dem Kalten Krieg die Lehre gezogen, dass ein Krieg gegen eine Atommacht nicht mehr in irgendeinem vernünftigen Sinne „gewonnen“ werden kann, jedenfalls nicht mit Mitteln militärischer Gewalt innerhalb der überschaubaren Frist eines heißen Konflikts. Das atomare Drohpotential hat zur Folge, dass die bedrohte Seite, …, die in jedem Fall unerträgliche Zerstörung militärischer Gewaltanwendung nicht durch einen Sieg, sondern bestenfalls mit einem für beide Seiten gesichtswahrenden Kompromiss beenden kann. … “

(SZ.Nr. 98, 29. April, S. 12f)

Macht dieses Dilemma, vor das wir durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine gestellt sind, eine Neupositionierung der evangelischen Kirche in ihrer Friedensethik nötig?

Darüber wird in unserer Kirche angesichts des Kriegsgeschehens in der Ukraine neu nachgedacht und debattiert.

So veröffentlichten etwa in der April-Ausgabe von zeitzeichen (Evangelische Kommentare zu Religion und Gesellschaft) der Theologieprofessor Reiner Anselm, die Militärpfarrerin Katja Bruns und der Militärdekan Roger Mielke ‚Überlegungen zu einer neuen evangelischen Friedensethik‘. Sie fordern in ihren Überlegungen eine neue „wirklichkeitsgesättigte” Friedensethik mit einer „illusionslosen Wahrnehmung des Faktischen“. Und sie sind „skeptisch gegenüber einer zu engen Bindung der Friedensethik an das Völkerrecht”. Weil sie in dieser Bindung die Friedensethik der EKD im Blick auf Putins Ukrainekrieg für „kontrafaktisch” halten.

Aber verweigert die Friedensdenkschrift der EKD von 2007 den offenen Blick auf eine ‚komplexe Realität”?

Verschließt sich die Friedensdenkschrift in ihrer Bindung an biblische Friedensvisionen und an internationale Rechtsordnungen einer ‚illusionslosen Wahrnehmung des Faktischen‘?

Brauchen wir also um unserer gegenwärtigen Wirklichkeit willen eine ‚neue’ evangelische Friedensethik?

Diese Fragen motivierten mich zu Titel und Inhalt meines Vortrags:

„Frieden schaffen – doch mit Waffen? Trägt die Friedensethik der Evangelischen Kirche noch?”

Kurze Erläuterung der Gliederung und des Titels (DEKT Hannover 1983, lila Tücher!)

II. Die Friedensdenkschrift der EKD von 2007:cFrieden fördern, erhalten und schaffen mit weniger Waffen!

Intensive friedensethische Reflexionen haben in der evangelischen Kirche nach dem Ende des 2. Weltkrieges und angesichts der Entwicklung atomarer Massenvernichtungsmittel zu einem Paradigmenwechsel geführt: Der Fokus wurde von der Frage nach einem ‚gerechten Krieg’ zur Frage nach einem ‚gerechten Frieden’ verschoben. „Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen“ so lautet der Titel der 2007 veröffentlichten und — wie ich denke – bis heute wegweisenden Denkschrift des Rates der EKD. Der Gedanke, es könne einen ‚gerechten Krieg‘ geben, hatte über anderthalb Jahrtausende — von Aurelius Augustinus im vierten Jahrhundert n.Chr. bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges – die christliche Friedensethik bestimmt.

Die Friedensdenkschrift der EKD aus dem Jahr 2007 verabschiedete sich von diesem Gedanken in der Einsicht:

Mag der Anlass eines Krieges auch zu rechtfertigen sein, Kriege sind grundsätzlich ungerecht, schrecklich, grausam und Ausdruck des Scheiterns einer lebensdienlichen Politik.

So wie es Elie Wiesel mit seinem Diktum auf den Punkt gebracht hat:

„Niemand von uns ist in der Lage, den Krieg auszurotten, aber unsere Pflicht ist es, ihn zu denunzieren und bloßzustellen in all seiner Abscheulichkeit. Krieg hinterlässt keine Sieger, nur Opfer.“

Schwerter zu Pflugscharen“ – diese biblische Friedensvision wurde zum Grundimpuls für die jetzt 15 Jahre alte Friedensdenkschrift der EKD. Und es war einst die Sowjetunion, die den Künstler Jewgeni Wutschetitsch damit beauftragte, eine Bronzeskulptur mit dem Titel „Schwerter zu Pflugscharen“ zu schaffen. Dieses Geschenk der Sowjetunion steht bis heute vor dem UN-Gebäude in New York!

Auch wer diese Skulptur nicht kennt, kann sich eine solche „Umschmiedung“ bildlich vorstellen: Ein Bild voller Trost und Hoffnung gerade für Menschen, die Kriege erlebt haben und durch Kriege verursachtes Leid kennen und fürchten.

„Schwerter zu Pflugscharen“ – inspiriert durch diese biblische Friedensvision plädiert die EKDFriedensdenkschrift von 2007 für weniger Waffen, also für Abrüstung und Abbau von vorhandenen Waffenpotenzialen. Und als wesentliche Implikationen dieses Abbaus betrachtet die Denkschrift die Einschränkung von Rüstungsexporten, strenge Rüstungskontrollen und Rüstungskonversion – ein moderner Begriff für das Geschehen, das Micha in seiner Vision beschreibt.

Heute wären hier als weitere Implikationen einer friedensfördernden Abrüstung zu ergänzen, was Standard zwischen den USA und der Russischen Föderation war, aber leider Stück für Stück zurückgenommen wurde: die Offenlegung von Rüstungsbeständen und deren Vernichtung bis zu definierten Obergrenzen, Einladungen zur Teilnahme an Manövern und zu gegenseitigen Visitationen militärischer Einrichtungen über die Grenzen von Verteidigungsbündnissen hinaus.

Mit einem realistischen Blick auf die Kriege im 20. und 21. Jahrhundert entfaltet die Friedensdenkschrift gleichsam eine Lehre des ‚gerechten Friedens‘. Unter anderem werden dabei folgende Aspekte auf- und ausgeführt:

der Primat der Politik vor dem Militärischen sowie der Primat der Prävention vor der Intervention;

die Betonung der Versöhnung und Verständigung zwischen den Völkern als Ziel der Politik; die Gestaltung einer Weltfriedensordnung als einer internationalen Rechtsordnung („rule of law“);

die Verbesserung der weltweiten sozialen Gerechtigkeit, d.h. vor allem die wirksame Bekämpfung von Armut, Hunger, materieller Not und Elend;

die Entwicklung einer leistungsfähigen Friedensforschung sowie der Aufbau und Ausbau von zivilen Friedensdiensten und eine umfassende Bildung und Erziehung zum Frieden.

Dabei ist die Lehre vom ‚gerechten Frieden‘ nicht identisch mit einem radikalen und uneingeschränkten Pazifismus.

Dessen Nähe zur jesuanischen Verkündigung bleibt im Blick auf die individuelle Glaubens- und Lebenshaltung zwar unbestritten. Ebenso aber auch die Einsicht, dass Jesu Verkündigung die staatliche Verantwortung und das staatliche Handeln nicht explizit im Blick hatte. Eher wurde staatliches Handeln als Gegenüber zur Lebenshaltung der Gemeinde gesehen: „So soll es nicht unter euch sein….“. Auch deshalb sieht die Denkschrift trotz aller Betonung des Vorrangs des Zivilen und des Primats der Gewaltfreiheit die Möglichkeit des Einsatzes einer ‚rechtserhaltenden militärischen Gewalt‘ ausdrücklich vor.

Freilich nur in bedingter Weise:

Rechtserhaltende Gewalt kann für die Denkschrift nur im Einklang mit der internationalen Rechtsordnung zur unmittelbaren Selbstverteidigung — also zur Notwehr- eingesetzt werden. Hinzu kommt der Einsatz von Militär im ausdrücklichen Auftrag der Vereinten Nationen als ‚Nothilfe‘ gegen drohende Genozide oder im Falle schwerer, massiver, systematischer Menschenrechtsverletzungen einem dritten Staat gegenüber. In der EKD-Denkschrift werden für den Einsatz von rechtserhaltender Gewalt weitere Kriterien genannt:

eine ausgearbeitete Interventionsstrategie,

die Verhältnismäßigkeit der Mittel,

eine realistische Einschätzung des Zeitrahmens, der für eine wirtschaftliche und politische Aufbauarbeit erforderlich ist, und zwar in Verbindung mit Ausstiegsszenarien.

Heute wäre hier als eine weitere Entwicklung z.B. die „rule of law“, die „Herrschaft des Rechtes“, zu ergänzen:

Das Wirken des „Internationalen Strafgerichtshofes“, um Kriegsverbrechen zu dokumentieren und um Verantwortliche für Kriegsverbrechen vor Gericht zu stellen

Fazit: Die gegenwärtig in Frage gestellte Friedensdenkschrift der EKD plädiert in Bindung an Gottes Wort und mit realistischem Blick auf die atomare und konventionelle Hochrüstung von Staaten für ein „Frieden fördern, erhalten und schaffen mit weniger Waffen!

Mit dieser Friedensdenkschrift der EKD wurde eine Wende von der „Lehre vom gerechten Krieg“ hin zur „Lehre vom gerechten Frieden“ vollzogen. Die im Jahre 2007 veröffentlichte Denkschrift hat mit ihrer Neuausrichtung eine größere Nähe zur biblischen Tradition hergestellt und damit pazifistische Impulse aufgenommen.

In Bindung an biblische Friedensvisionen betont sie den Vorrang nicht-militärischer Mittel zur Konfliktlösung.

Allerdings schließt sie militärische Gewalt unter bestimmten Bedingungen als ‚ultima ratio‘ nicht aus.

Möglichkeiten und Grenzen von ‚rechtserhaltendem militärischen Gewaltgebrauch‘ werden entfaltet. Die dabei aufgezeigten Begrenzungen militärischer Gewalt signalisieren einen realistischen Blick auf die ‚komplexe Realität’ in Kriegszeiten und die Eigendynamik von Kriegen.

III. ‚Neue‘ Fragen an die Friedensethik:

Ist der Ukraine-Krieg eine Zeitenwende für eine realistische und alltagstaugliche Friedensethik?

Inwiefern stellt der Ukraine-Krieg unsere evangelische Friedensethik vor neue Fragen bzw. sogar grundsätzlich ‚Infrage’?

In seiner Regierungserklärung am 27. Februar dieses Jahres erklärte unser Bundeskanzler Olaf Scholz:

„Der 24. Februar 2022 markiert eine Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents. Mit dem Überfall auf die Ukraine hat der russische Präsident Putin kaltblütig einen Angriffskrieg vom Zaun gebrochen.”

Die Autoren der ‚Überlegungen zu einer neuen evangelischen Friedensethik’ in der April-Ausgabe von „zeitzeichen‘ nehmen diese Vorstellung einer ‚Zeitenwende’ auf und konstatieren:

„Am 24. Februar haben die russischen Streitkräfte in einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg die Ukraine überfallen. Die Dynamik ist atemberaubend. Unter dem Eindruck der Echtzeithilder von Kriegsschauplätzen ist auch die öffentliche Meinung umgeschwenkt. Plötzlich ist die Zustimmung für Woffenlieferungen an die Ukraine überwältigend. Wir sind zutiefst irritiert und versuchen mühsam, uns zu orientieren angesichts der Flüchtlingsströme und des unabsehbaren Leids. Vor uns liegen die Trümmer der europäischen Sicherheitsordnung. … Nun spätestens ist uns klar geworden, dass die globale Friedensordnung insgesamt in die Krise geraten ist.” (zeitzeichen 4/2022, S. 8f)

Reiner Anselm, Katja Bruns und Roger Mielke stellen das ‚Zutrauen der evangelischen Friedensethik ‚in die Funktionsfähigkeit der internationalen Rechtsordnung” infrage und erklären: „Das macht skeptisch gegenüber einer zu engen Bindung der Friedensethik an das Völkerrecht. Damit ist das Leitkonzept der Rechtsförmigkeit des Friedens nicht selbst schon obsolet geworden, aber es kann nur als kontrofaktisches Prinzip gelten.“

„An diesem Punkt“, so fordern die Kritiker der EKD – Friedensethik, „muss das Leitbild des gerechten Friedens weiterentwickelt und vor allem gegen mögliche Einseitigkeiten geschützt werden.“ (zeitzeichen 4/2022, $. 9)

Im weiteren Verlauf der ‚Überlegungen zu einer neuen evangelischen Friedensethik‘ wird deutlich, dass die Autoren eine ‚pazifistische Reinterpretation der evangelischen Friedensethik‘ als eine solche Einseitigkeit sehen. Damit meinen sie vermutlich Initiativen wie SnD. Denn in der EKD-Schrift finden sich Ansätze für diese Initiativen. Sie fordern: „Angesichts der nuklearen Drohungen gilt es, nüchtern anzuerkennen, dass eine Sicherheitsordnung ohne atomare Abschreckung gegenwärtig kaum denkbar ist. Abschreckung heißt: Ein Aggressor muss zu dem Schluss kommen, dass der Preis für eine militärische Konfrontation untragbor ist. … Für die Soldatinnen und Soldaten ist es wichtig, dass sich die demokratische Öffentlichkeit mit ihnen identifiziert. Sodann: Für die Verteidigung wird eine solide finanzierte Bundeswehr gebraucht, die technologisch fortgeschrittensten Waffen sowie eine leistungsfähige Rüstungsindustrie. Eine umstandslose moralische Ächtung der Waffenproduktion verbietet sich vor diesem Hintergrund von selbst.“ (a.a.0., 5. 11)

Erweisen sich also die Bindung der Friedensethik an biblische Friedensvisionen und ihr Zutrauen in internationale Rechtsordnungen gegenwärtig als unbrauchbar für Orientierung und Wegweisung im realpolitischen Handeln?

Fordert der Ukraine-Krieg deshalb eine ‚neue’ Sicherheitsordnung und eine ‚neue’ evangelische Friedensethik unter dem Leitprogramm: „Frieden fördern, erhalten und schaffen mit mehr und mit effektiveren Waffen?“ Brauchen wir also eine bellizistische Reinterpretation?

Ich sehe das nicht so.

Und ich verstehe den 24. Februar 2022 zwar als „Zeitenwende“ für unsere Politik gegenüber Putin, nicht aber als „Zeitenwende“ für unsere evangelische Friedensethik.

Das will ich im folgenden Kapitel erläutern.

IV. Trägt die Friedensethik der Evangelischen Kirche noch?

Grundsätzliche Anmerkungen zur theologischen Ethik und drei begründete Thesen zum Diskutieren und Weiterdenken

Am 8. Februar 1929 begann Dietrich Bonhoeffer seinen Vortrag „Grundfragen einer christlichen Ethik“ mit dem Satz:

„Nicht in dem Sinne um den Versuch zu unternehmen, der doch schlechterdings hoffnungslos ist, in den ethischen Fragen der Gegenwart christlich allgemeingültige Normen, Gebote aufzustellen, sondern vielmehr nur, um die eigentümliche Bewegung der ethischen Probleme der Gegenwart unter der Beleuchtung christlicher Grundideen zu sehen und an ihr teilzunehmen, werden wir heute von Grundfragen einer christlichen Ethik sprechen.“ (zitiert nach Gremmels/Huber (Hg), Dietrich Bonhoeffer Auswahl Bd 1, Gütersloh 2006, 5. 96)

Diese Einsicht gilt, so denke ich, auch heute für das evangelische Verständnis von ethischen Fragen und Problemen unserer Gegenwart. Auch für eine tragfähige evangelische Friedensethik. Christliche Ethik kann nicht zu allgemeingültigen, überzeitlichen Normen und damit zu einer eindeutigen und widerspruchsfreien Realpolitik führen.

Eine auf Christus bezogene Ethik hält vielmehr das Fragen der Menschen nach Gottes Wort bezogen auf bestimmte Sachfragen oder Problemzusammenhänge offen.

Um es mit Bonhoeffers Worten zu sagen:

„Der Sinn der gesamten ethischen Gebote Jesu ist vielmehr der, dem Menschen zu sagen: Du stehst vor dem Angesicht Gottes, Gottes Gnade waltet über dir, du stehst aber zum Anderm in der Welt, musst handeln und wirken, so sei bei deinem Handeln eingedenk, dass du unter Gottes Augen handelst…” (a.a.O., S.99f)

Eine Friedensdenkschrift der EKD ist also nicht so etwas wie ein politisches Handbuch für ‚richtiges‘ und ‚gutes’ Reden, Entscheiden und Handeln in Kriegszeiten. Sondern sie ist eine geistige und geistliche Auseinandersetzung.

Eine Auseinandersetzung, die in Verantwortung vor Gott und der Welt zu verantwortlichem Entscheiden und Handeln von Menschen – auch in Regierungsverantwortung -befähigen will. Für ein solches Entscheiden und Handeln gilt die Einsicht:

Konkrete theologisch-ethische Entscheidungen müssen sich einer Vielstimmigkeit, Mehrdeutigkeit, Vagheit und Unentscheidbarkeit — also der Ambiguität – stellen.

Denn:
Der Besitz von eindeutigen, absoluten und unbestreitbaren Wahrheiten gehört nicht zum menschlichen Maß, das uns Gott, der Schöpfer, zugeteilt hat. Wir müssen uns in unseren aktuellen politischen Fragen und Krisen immer neu bewusst machen: Je konkreter wir reden und handeln, umso mehr entziehen sich Gottes Wille und Wahrheit einer eindeutigen Klärung.

Das gilt auch für die evangelischen Friedensethik!

Ich halte die Friedensdenkschrift der EKD von 2007 noch immer — und angesichts des Ukrainekrieges wieder neu – für eine tragfähige geistige und geistliche Auseinandersetzung mit den Fragen von Frieden und Krieg unter ‚den Augen Gottes‘.

Drei begründete Thesen zum Diskutieren und Weiterdenken sollen meine Beurteilung erläutern. Siehe Thesenblatt

V Schlussworte

Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein! — dieses pointierte Bekenntnis ist für mein theologisches Denken und Reden gleichsam ein Axiom. Also ein Fundament, das ich nicht beweisen kann und muss. Und das andererseits auch nicht durch das Reden und Handeln von Kriegsverbrechern wie Putin oder von kriegsverherrlichenden Bischöfen wie Kyrill falsifiziert werden kann.

„Nicht von der Kunst des Sterbens, sondern von der Auferstehung Christi her kann ein neuer reinigender Wind in die gegenwärtige Wirklichkeit wehen. Wenn ein paar Menschen dies wirklich glaubten und sich in ihrem irdischen Handeln davon bewegen ließen, würde vieles anders werden.“ (D. Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, Chr. Kaiser Verlag, 5.369)

Das schrieb Dietrich Bonhoeffer in seinem Osterbrief an Eberhard Bethge, im April 1944, als er im Gefängnis auf seinen Prozess wartete. Bonhoeffers Bindung an den österlichen Auferstehungsglauben war für ihn kein Hindernis, sondern Motivation und Grund für seine ‚illusionslose Wahrnehmung des Faktischen‘ und für den offenen Blick auf eine ‚komplexe Realität‘.

Diesen Zusammenhang sehe ich auch in der Friedensdenkschrift der EKD von 2007 aufgenommen. Deshalb halte ich sie immer noch für tragfähig. Und ich erhoffe und wünsche mir eben auch für unser gegenwärtiges friedensethisches Reden, Entscheiden und Handeln:

Die Bindung an biblische Friedensvisionen und an den österlichen Auferstehungsglauben sollen Motivation und Grund bleiben, die Realpolitik in kriegerischen Zeiten kritisch und konstruktiv zu begleiten. Das gilt gerade dann, wenn das Zutrauen in internationale Rechtsordnungen unterminiert und gleichzeitig innerhalb und außerhalb der Kirchen Forderungen nach immer mehr Waffen immer lauter werden.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!

Trägt die Friedensethik der Evangelischen Kirche noch?
Drei Thesen von Nikolaus Schneider

These 1:

„Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein!“ - das Grundbekenntnis der ‚alten‘ Friedensdenkschrift von 2007 trägt unsere evangelische Friedensethik auch in den gegenwärtigen Zeiten.

Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein — dieses Bekenntnis verdanken wir der Ersten Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen 1948 in Amsterdam. In Bindung an dieses Bekenntnis wird in der Friedensdenkschrift die Grundsatzfrage einer theologischen bzw. kirchlichen Bewertung militärischer Gewalt entfaltet. Und diese Entfaltung ist durchaus auch auf das Fragen nach einer theologisch-ethischen Bewertung von Waffenlieferungen in die Ukraine. Indem sie etwa nach Ausstiegsszenarien fragt. Diese Bewertung wird allerdings nicht in ein widerspruchsfreies und einstimmiges Votum münden — weder in kirchlichen Leitungsgremien noch in theologischen Vortrags- und Gesprächsveranstaltungen.

Einzelne Christenmenschen, Gemeinden und Gemeindegruppen werden hier zu unterschiedlichen Antworten kommen. Denn auch das Bewusstsein ‚unter Gottes Augen zu handeln’ wird die Spannung zwischen der Bereitschaft, gewaltlos Gewalt zu erdulden und der Bereitschaft, Gewalt auszuüben um Gewalt einzudämmen, nicht ein für alle Mal auflösen.

Dietrich Bonhoeffer etwa hat angesichts der Naziverbrechen den Schluss gezogen, dass es nicht ausreicht, die unter die Räder Gekommenen zu verbinden. Dem Rad muss auch in die Speichen gegriffen werden - und sei es mit Gewalt. Dabei werden wir schuldig. Aber auch der Verzicht auf den Griff in die Speichen lässt uns nicht schuldfrei bleiben. Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein - der Preis für dieses Bekenntnis ist in Kriegszeiten ein nicht aufzulösendes Dilemma: Der Verzicht auf Gewalt und der Gebrauch von Gewalt lassen uns schuldig werden an den Opfern - und auch an den Tätern.

These 2:

Der in der Friedensdenkschrift von 2007 entfaltete Leitbegriff „Gerechter Friede“ trägt evangelische Friedensethik, solange er nicht mit absoluter „Sicherheit“ gleichgesetzt wird.

‚Gerechter Friede’ ist nicht gleichzusetzen mit Unverwundbarkeit und absoluter Sicherheit. Wohl aber ist Sicherheit ein ur-menschliches und ernstzunehmendes Bedürfnis, das nicht schlecht geredet werden darf.

In der Friedensdenkschrift heißt es deshalb: „Die im UN-Bericht 1994 vorgenommene Verknüpfung des Konzeptes menschlicher Entwicklung mit dem Konzept menschlicher Sicherheit hebt auf Sicherheitsbedürfnisse der Menschen in ihrem Alltagsleben ab und basiert auf der Idee, dass es zu den Aufgaben der Staaten und der internationalen Gemeinschaft gehört, die einzelnen Menschen sowohl vor Gewalt als auch vor Not zu schützen“.

Wir wissen aber auch aus unserer persönlichen, gesellschaftlichen und politischen Erfahrung, dass es keine absolute Sicherheit gibt.

Es gibt „Fenster der Verwundbarkeit“, die wir nicht schließen können. Der Versuch, alle „Fenster der Verwundbarkeit“ durch Waffen zu schließen, ist aussichtslos und ruinös. Gerechter Friede ist immer auch ein Wagnis. Man muss Frieden wagen, wie man auch Vertrauen wagen muss, wenn es um Sicherheit geht.

Deshalb gilt es auch, Zutrauen in die Funktionsfähigkeit von internationalen Rechtsordnungen zu wagen! Und auch Zutrauen dazu, den Frieden zwischen Staaten durch gemeinsame Wirtschaftsprojekte und Handelsverträge zu fördern! Für jedes Wagnis von gegenseitigem Vertrauen und Zutrauen aber gilt: Es kann nicht vollständig abgesichert werden. Es kann enttäuscht und es kann missbraucht werden, weil Regierende und/oder Regierte sich nicht an Verträge und Rechtsordnungen halten.

Aber: Putin und andere Kriegsverbrecher sind nicht die Garanten unserer evangelischen Friedensethik. Sie sind es ebenso wenig, wie die römischen Soldaten zur Zeit Jesu die Garanten für das Evangelium von Gottes Menschenliebe waren.

Ich sehe es als eine bleibende Aufgabe christlicher Friedensethik, für eine nüchterne Form des Wagnisses einzutreten und Konzepte von Sicherheit in Konzepte von Frieden zu integrieren. Eine ‚Sicherheitslogik‘ gegen eine ‚Friedenslogik’ zu steilen, halte ich nicht für zielführend.

These 3:

Die Friedensdenkschrift von 2007 setzt auf den Vorrang des Zivilen und auf das Primat der Gewaltfreiheit. Diese Gewichtung halte ich für tragfähig - auch und gerade für unsere gegenwärtigen Krisen.

Die Friedensdenkschrift der EKD von 2007 knüpft an die Aufgaben des Konziliaren Prozesses an: Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung. Der Konziliare Prozess begann, als das atomare Wettrüsten auf die Spitze getrieben war. Und er rief auf zur „Absage an Geist, Logik und Praxis der Abschreckung“. In Verantwortung vor Gott und voreinander sollen die Kirchen der Welt grundlegende Verpflichtungen für Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung eingehen.

Das ist eine kontinuierliche Aufgabe, ein ethisch-theologischer und zugleich ein praktisch-handlungsorientierter Prozess, an dem sich viele kirchliche Organisationen und Gemeindegruppen beteiligen. So auch die ‚Initiative Sicherheit neu denken’ wie auch viele andere Friedensgruppen und Initiativen für zivile Verteidigung und gewaltfreien Widerstand. Deren Denken und deren Vorschläge gehören in den öffentlichen Diskurs.

Gerade dann, wenn wir auf konkretes realpolitisches Entscheiden und Handeln Einfluss nehmen wollen, gilt für uns die bereits ausgeführte (vgl. Vortrag, S. 18ff) Einsicht: Unsere konkreten theologisch-ethischen Entscheidungen müssen sich einer Vielstimmigkeit, Mehrdeutigkeit, Vagheit und Unentscheidbarkeit — also der Ambiguität - stellen.

Diese Ambiguitäts-Toleranz brauchen wir in unseren Kirchen gerade jetzt, wo es um das konkrete Fragen nach dem konstatierten ‚Primat der Gewaltfreiheit’ in der Ukraine geht. Und wir brauchen diese Ambiguitäts-Toleranz auch uns selbst gegenüber. Denn jeder neue offene und realistische Blick auf die komplexen Realitäten in der Ukraine, in Russland, in Deutschland, in Europa und in der Welt zerschlägt in uns immer wieder Antworten, Einschätzungen und Gewissheiten von gestern.

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https://www.gemeinde-bergerhausen.de/frieden-schaffen-doch-mit-waffen/

Vielstimmig wird eine Neuausrichtung evangelischer Friedensethik gefordert – zurecht? Also: „Frieden schaffen doch mit Waffen“? So lautet deshalb der Titel des Vortrages von Nikolaus Schneider,

Leserbrief zu „Dialog zum Ukraine-Konflikt“ / WAZ-Essen 10.10.2022

dass angesichts des Krieges in der Ukraine nun von vielen Seiten eine Neuausrichtung der evangelischen Friedensethik gefordert werde, lese ich. Darüber wolle Nikolaus Schneider im Rahmen des Bergerhauser Dialoges am kommenden Montag sprechen. So neu scheint mir diese Neuausrichtung aber nicht zu sein, denn zum Thema Waffenexporte äußerte sich Herr Schneider schon 2013 in einem ARD-Beitrag „Tod für die Welt – Waffen aus Deutschland“, dass „Das Böse in der Welt“ eine Realität sei, und dass es die „Aufgabe des Staates“ sei, unter „Androhung und Ausübung von Gewalt für Recht und Frieden zu sorgen“ (*). Ob gegen „Das Böse in der Welt“ wohl auch atomare Bewaffnung und F-35-Atombomber vonnöten sind? Die Antwort der neuausgerichteten Friedensethik auf diese Frage interessiert mich sehr. Quelle (*) https://de.wikipedia.org/wiki/Nikolaus_Schneider

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