Armut: Sozialstaat oder Barmherzigkeit

Zitat aus: Zwischen Sozialstaat und Barmherzigkeit Caritas NRW:

Essener Tafel: "gegen den Hunger in unserer Stadt"

Essener Tafel: "gegen den Hunger in unserer Stadt"

Kirche und Caritas, engagierte Christen und Initiativen sehen sich in der Verantwortung für Menschen, die in existenzielle Not geraten sind. Sie engagieren sich beim Aufbau und beim regelmäßigen Betrieb existenzunterstützender Angebote. Diese Angebote boomen, weil immer mehr Menschen von Armut betroffen sind und weil die staatlichen Hilfeleistungen nach den Sozialgesetzbüchern (SGB II und SGB XII) den monatlichen Bedarf, insbesondere wegen des enormen Anstieges der Lebenshaltungskosten, nicht mehr decken.

Zehn Euro gegen den Hunger

in Deutschland herrscht aber keine allgemeine Hungersnot: einige hundert Meter weiter wird man für zehn Euro satt...

Diese Hilfen sind notwendig, weil die Bedürftigen auf sie angewiesen sind – und bleiben doch Almosen. Auf sie angewiesen
zu sein ist zu wenig, um ein Leben in Würde zu führen. Zu einem menschenwürdigen Leben gehören auch die angemessene Versorgung in zentralen Lebensbereichen wie Wohnung, Gesundheit, Bildung, Transport und Kommunikationsmöglichkeiten
sowie soziale Sicherheit und Rechtsschutz.

In unserer Demokratie ist es die Aufgabe des Staates, für alle Bürger den gleichen Zugang zu diesen Gütern sicherzustellen. Zu beobachten ist jedoch, dass parallel zum Anwachsen der flächendeckend organisierten, existenzunterstützenden Hilfen staatliche Transferleistungen abgesenkt werden und sich der Staat immer weiter aus seiner aktivierenden, fürsorgenden und vorsorgenden Verantwortung verabschiedet.

Die Sozialgesetzgebung im SBG II konzentriert sich seit den durchgreifenden Arbeitsmarktreformen ab dem 1. Januar 2005 völlig auf die Integration von Menschen in den Arbeitsmarkt. Das Recht auf Teilhabe für Menschen auch am sozialen und kulturellen Leben in der Gesellschaft wird ignoriert. Struktur und Höhe der Regelleistungen zeigen dies eindrucksvoll auf.

Die Bewertung von existenzunterstützenden Angeboten ist bislang in der Rechtsprechung und Verwaltungspraxis zum SGB II noch in weiten Teilen ungeklärt. Dabei geht es insbesondere um die Frage, ob und in welchem Umfang solche Leistungen als zusätzliches Einkommen zu berücksichtigen sind. Deutlich erkennbar ist mancherorts die Tendenz, staatliche Leistungen entsprechend zu kürzen. Nach der aktuellen Rechtsprechung kann man davon ausgehen, dass die regelmäßige Versorgung mit einem Mittagessen nicht als Einkommen berücksichtigt werden darf. Problematisch kann es unter Umständen werden, wenn regelmäßig Lebensmittel überreicht werden, deren Wert, auf den Monat gerechnet, die Hälfte des Regelsatzes überschreitet.

Bewertung und Positionierung

Die Caritas in NRW hält das soziale Engagement der vielen Ehrenamtlichen in den existenzunterstützenden Angeboten für wichtig. Sie stehen Menschen in schwierigen Situationen bei, helfen ganz konkret den Mitbürgerinnen und Mitbürgern in einer existenzgefährdenden Lebenssituation.

Dieses Engagement verdient höchste Anerkennung und die Unterstützung durch Caritas- und Fachverbände.

Es widerspricht jedoch dem Gedanken des bürgerschaftlichen Engagements sowie den Motiven der Ehrenamtlichen, wenn existenzunterstützende Angebote als Ersatz für sozialrechtlich geregelte Leistungen herhalten müssen. Das kann nicht hingenommen werden.

Daraus muss gefolgert werden:

  1. Die Grundversorgung aller Menschen in unserem Land muss sozialstaatlich gesichert sein.
  2. Ziel der Caritas ist es, Armut undAusgrenzung insbesondere für benachteiligte Menschen zu verhindern.
  3. Zur Verbesserung der gesellschaftlichen und gesetzlichen Rahmenbedingungen engagiert sich die verbandliche Caritas im Sinne ihres Auftrags und zugunsten der Betroffenen.
  4. Die Selbsthilfekräfte und Ressourcen der in Armut lebenden Menschen sind anzuregen und zu stärken.
  5. Existenzunterstützende Angebote sind derzeit leider notwendig.
  6. Existenzunterstützende Angebote sind immer konkrete Hilfen und wirken auch in die Gesellschaft.
  7. Langfristig müssen existenzunterstützende Angebote zunehmend verzichtbar werden.

Perspektiven undHandlungsempfehlungen

Die Praxis der Helfenden

Nach dem christlichen Selbstverständnis handelt derjenige gut, der einem Menschen Kleidung, Lebensmittel oder eine Mahlzeit absichtsfrei gibt, wenn dieser sie braucht. Hier sind zwei wesentliche Kriterien ausgedrückt. Es muss erstens eine konkrete Not vorliegen und zweitens das Geben absichtsfrei erfolgen.

Dies bedeutet für die Helferinnen und Helfer vor Ort: Sie müssen

  • sich der Motive ihres Handelns bewusst sein.
    Helfen kann sowohl stolz als auch bescheiden,
    menschenfreundlich, aber auch mächtig machen. Hier ist eine
    Selbstvergewisserung geboten. Kollegiale Beratung, Supervision, Fortbildung etc. können die Instrumente der Reflexion sein.
  • sich mit Verteilungs- und Befähigungsgerechtigkeit
    auseinandersetzen. Dies beinhaltet die Reflexion gesellschaftlicher
    Ursachen und der Wirkung von Armut und Ausgrenzung.
  • klare Entscheidungen treffen, welche Ziele mit dem Angebot erreicht werden sollen. Es muss geklärt werden,
    ob im Sinne einer Verteilungsgerechtigkeit oder Befähigungsgerechtigkeit geholfen werden soll.
  • transparent in den Motiven und Zielen sowie den Grenzen der Hilfe sein. Durch eine klare Darstellung der Hilfsmöglichkeiten ist es möglich, auch die Grenzen in die politische Diskussion zu bringen, ohne eine Abwertung eines Angebotes vornehmen
    zu müssen. Gleichzeitig werden die Helferinnen und Helfer vor überfordernden moralischen Ansprüchen geschützt.

Die Praxis der Organisation/Einrichtung

Was auf Ebene des individuellen Handelns gut und geboten ist, ist in diesem Fall auf der Ebene des kollektiven Handelns einer Organisation anders zu bewerten.

Denn die Organisationen und Einrichtungen der Caritas verfügen über die Distanz einer Organisation, arbeiten professionell und müssen ihr Wirken an caritativen und sozialethischen Maßstäben
ausrichten. Das bedeutet:

  1. Keine Beschränkung auf „Almosenabgabe“.Die Caritas als anwaltschaftlicher Akteur in der Gesellschaft muss zwar unmittelbare Nothilfe ermöglichen, darf sich aber darauf nicht beschränken. Auch darf sie dieses Aktionsfeld nicht zu einem priorisierten Handlungsfeld machen, sondern sie muss immer die Situation von Menschen in Not öffentlich problematisieren.
  2. Eine Umsetzung des christlichpolitischen Anspruchs.Der christlich-politische Anspruch beruht auf der unbedingten Achtung vor der Menschenwürde. Deswegen müssen- Verteilungs- und Befähigungsgerechtigkeit,- selbstbestimmte Teilhabe am Leben der Gesellschaft,- Integration und Zugangsgerechtigkeit,- Befähigung und Hilfe zur Selbsthilfeals konkreter Ausdruck des christlichen Anspruchs verstanden und die Umsetzung der genannten Punkte politisch gefordert werden.
  3. Eine klare anwaltschaftliche HaltungAnwaltschaftlichkeit bedeutet,- das Leben der Menschen und damit die existenzielle Not in ihren Ursachen, Wechselwirkungen und Folgen zu erkennen und zu benennen.- die Zusammenhänge von Armut, Arbeitslosigkeit, Bildung, Gesundheit, fehlender Alltagskompetenz usw. zu analysieren, entsprechende Konsequenzen daraus abzuleiten und entsprechende staatliche Maßnahmen einzufordern.- Gerechtigkeitslücken in den Gesetzen zu erkennen und sich politisch, aber auch juristisch für deren Veränderung einzusetzen.- Rechtsberatung anzubieten.
  4. Eine Wertschätzung und Unterstützung der helfenden InitiativenDie konkrete Hilfe von Ehrenamtlichen für Menschen in Not bedarf der Wertschätzung und Unterstützung durch die Caritas. Sie müssen existenzunterstützende Angebote so organisieren, dass
    sie die Selbsthilfekräfte der Menschen erkennen, stärken und fördern. Diese Prinzipien müssen in der Ausgestaltung der Hilfsangebote fachlich beachtet und verankert werden.
  5. Soziale Not offensiv aufdecken und benennen.Wenn das Vorhandensein existenzunterstützender Angebote missbraucht wird, um diejenigen „ruhigzustellen“, die die soziale Frage aufwerfen, ist dies in großer Klarheit zu benennen. Wo eine systematische Entpolitisierung der Not stattfindet stattfindet, muss dies aufgedeckt werden. Unverzichtbarer Bestandteil kirchlichcaritativer Arbeit bleibt das Ziel, Suppenküchen, Kleiderkammern, Lebensmittelausgaben durch eine Veränderung der strukturellen Ursachen von Armut entbehrlich zu machen.

Selbstverpflichtung

  • Die Caritas verpflichtet sich, darauf hinzuwirken, dass kein Verweis der Sozialbehörden auf Essensausgaben und ähnliche Hilfsangebote bei gleichzeitiger Verweigerung von Sozialleistungsansprüchen erfolgt.
  • Die Caritas beteiligt sich im Sinne der katholischen Soziallehre am Aufbau und an der Weiterentwicklung einer solidarischen Gesellschaft.
  • Die Caritas stellt Zeit und Raum zur Reflexion der inhaltlichen Ausgestaltung der Angebote zur Verfügung und unterstützt diese.
  • Die Caritas stellt sowohl die Beratung und Unterstützung als auch die Vernetzung der Initiativen und Angebote sicher.
  • Die Caritas richtet ihre politische Einflussnahme vorrangig auf die Verhinderung von Armut und Ausgrenzung aus.
  • Oktober 2008, Diözesan-Caritasverbände Aachen, Essen, Köln, Münster und Paderborn


    Standpunkt der SP zu Essenstafen:
    übersetzt aus „Standpunt over voedselbanken“, einem Standpunkt der niederländischen Sozialistische Partei (SP) zu den Essenstafeln (nl.:Voedselbanken). Das läßt sich eigentlich auch gut auf deutsche Verhältnisse übertragen:

    Die SP schätzt die gute und uneigennützliche Arbeit von Hunderten von Freiwilligen der Essenstafeln in den Niederlanden. Sie greifen auf was durch gescheiterte Staatspolitik vernachlässigt wird und wissen wie kaum andere was sich verändern muß.

    Duch Einsparungen und Entrechtung von Arbeitnehmern haben immer mehr Menschen in den Niederlanden Mühe über die Runden zu kommen. Sie sind genötigt bei den Essenstafeln anzuklopfen um ein Essenspaket zu bekommen. Einerseits weil der (Mindest-)Lohn und die Höhe der Sozialleistungen zu niedrig sind, andererseits weil das Kabinett sich weigert sich der Armutsbekämpfung zu widmen.

    Das Geld, das zur Armutsbekämpfung freigemacht wird, kommt auch nicht immer zu den Menschen mit den geringsten Einkommen. Solange das sich nicht verändert und die Regierung sich weigert eine ernsthafte Armutspolitik zu machen, bleiben Essenstafeln leider nötig.

    Was die SP angeht, müssen Essenstafeln überflüssig werden.
    Der Mindestlohn und die Sozialleistungen müssten erhöht werden. Die Kommunen bekämen mehr Möglichkeiten Armut zu bekämpfen und Schulden zu sanieren, und vorzubeugen, dass Kinder in Armut aufwachsen. Das Geld das für kommunale Armutsbekämpfung und Schuldnerberatung bestimmt ist muss auch tatsächlich dafür gebaucht werden.

    NRZ-Essen 16.4.2011

    NRZ-Essen 16.4.2011

    Diözesan-Caritasverband Münster, 12.04.2011
    Brauchen wir Tafeln, Suppenküchen und Kleiderkammern?

    Caritas in NRW veröffentlicht wissenschaftliche Studie zur Wirksamkeit existenzunterstützender Hilfen

    Münster/Düsseldorf (cpm). Wer auf Tafeln, Warenkörbe und Kleiderkammern angewiesen ist, fühlt sich dauerhaft aus der Gesellschaft ausgegrenzt. Das ist eines der zentralen Ergebnisse einer Untersuchung der Forschungsgruppe „Tafelmonitor“ von Prof. Stefan Selke (Furtwangen), und Prof. Katja Maar (Esslingen) zur Wirksamkeit existenzunterstützender Angebote, die die Diözesan-Caritasverbände in NRW in Auftrag gegeben haben. Die Spaltung der Gesellschaft, die sich in den existenzunterstützenden Angeboten fortsetze. „ist für die Caritas in NRW nicht akzeptabel,“ erklärte der Münsteraner Diözesancaritasdirektor Heinz-Josef Kessmann am Dienstag vor der Landespressekonferenz in Düsseldorf.

    Die Ergebnisse liegen jetzt als Buch vor. Befragt wurden haupt – und ehrenamtliche Helfer sowie regelmäßige Nutzer und Nutzungsverweigerer“ von existenzunterstützenden Angeboten. Den Mitarbeitenden attestiert die Studie eine hohe Verantwortlichkeit für die menschenwürdige Existenz ihrer Mitmenschen. Sie verstünden sich als Ausfallbürgen für die mangelnde sozialstaatliche Absicherung. Ihnen gehe es um konkrete Unterstützung für einzelne in Not geratene Menschen und nicht um politische Arbeit bei der Bekämpfung der Ursachen.

    Existenzsicherung aber sei Aufgabe des Sozialstaats, so Kessmann, und dürfe nicht auf die Armenfürsorge der Wohlfahrtsverbände und der Gesellschaft verschoben werden. Tafeln, Suppenküchen, Kleider- und Möbelshops könnten und dürften als akute konkrete Hilfen in Notsituationen nicht auf Dauer angelegt sein. Gleichzeitig gelte es für die Caritas in NRW, die Beteiligung von Menschen in Armut zu fördern, ihre Stärken zu erkennen und zu fördern und die Vernetzung der Einrichtungen zu verbessern.

    036/2011 12. April 2011

    Hinweis: Caritas in NRW ( Hg .): Brauchen wir Tafeln, Suppenküchen und Kleiderkammern? Hilfen zwischen Sozialstaat und Barmherzigkeit. 2011, 128 Seiten, kartoniert, € 15,80/ SFr 24,50

    ISBN 978-3-7841-2029-4

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