Tagebuch aus Libyen

Was Politiker in Deutschland sagen: Eine Podiumsdiskussion am 23.6.2011

=== Tagebuch aus Libyen === / Notizen vor Ort

Ich befinde mich zur Zeit in Tripolis. Ich kenne die Stadt von früheren Aufenthalten und kann daher die Veränderungen der letzten Zeit nachempfinden. Die Atmosphäre ist geprägt von unterschiedlichen Geschehnissen, Bildern und Gefühlen. Angesichts der Bombardierungen in den vergangenen Tagen herrscht immer noch weitgehend Normalität. Die Geschäfte sind geöffnet und – soweit ich das feststellen kann – gut gefüllt. Unübersehbar aber sind die Autoschlangen vor den Tankstellen, die inzwischen oft mehrere hundert Meter lang sind.

26. April 2011 –

Tagsüber ist es schon heiß und die Menschen müssen stundenlang in der Hitze ausharren um einen Kanister Benzin zu bekommen. Die Kapazitäten der Raffinerien reichen nicht aus, Tankschiffe, die zusätzliches Benzin bringen sollen, werden nach Aussage meiner Gesprächspartner am Einlaufen gehindert. Bei den Menschen die an den Tankstellen anstehen handelt es sich aus meiner Sicht ausnahmslos um Zivilisten, darunter viele alte Menschen und Kinder.

Inwieweit die UNO-Resolution derartige Beschneidungen des Zivillebens rechtfertigt kann ich nicht beurteilen. Das Internet ist frei nutzbar; es gibt keinerlei inhaltliche Beschränkung. In einem Fernseher in der Lobby meines Hotels läuft den ganzen Tag CNN. Auf dem Zimmer kann ich alle wichtigen Fernsehsender, darunter auch das ZDF, empfangen.

27. April 2011 –

In der Nacht gab es keine wahrnehmbaren Einschläge oder Abwehrfeuer. Die Millionenstadt mit ihren zahlreichen neuen Gebäuden, modernen Hotels und grünen Parks wirkt wie im Frieden. Nur der Verkehr auf den breiten Straßen ist wesentlich geringer als in früheren Jahren und ich habe auch den Eindruck dass sich weniger Menschen auf den Plätzen, in den Cafés und Einkaufsstraßen aufhalten. Nachvollziehbar, wenn man sich die Lage verdeutlicht, in der sich das Land und die Menschen augenblicklich befinden. Sobald man erkennt, dass ich aus Deutschland stamme, beginnt die Diskussion. Meine Gesprächspartner zeigen sich erstaunlich gut informiert. Einig scheinen sich alle darin zu sein dass der Krieg so schnell wie möglich beendet werden muss um die Probleme auf Gesprächsebene zu lösen. Man setzt dabei stark auf Deutschland, dass man allgemein als ehrlichen Makler empfindet.

28. April 2011 –

Gestern Abend konnte ich mit einer Lehrerin, die ich vor etwa zehn Jahren während der Dreharbeiten zu meinem ersten Dokumentarfilm über Libyen kennen lernte, telefonieren. Sie hat vor den Unruhen in Tobruk unterrichtet und hält sich derzeit im Osten auf:

Die Rebellenbewegung in Ostlibyen wird in den Medien weitgehend falsch dargestellt. Es handelt sich um eine aus vielen unterschiedlichen Interessengruppen zusammengesetzte Bewegung die augenblicklich noch die Forderung nach dem Sturz Gassafis einige. Sollte dieses Ziel erreicht sein, werde sie zerfallen und die einzelnen Gruppen würden sich untereinander bekämpfen. Ein zweites Afghanistan sei nicht ausgeschlossen.

Im Osten Libyens, vornehmlich in den Städten Derna, Beida und Tobruk, sei die Islamisierung unübersehbar. Die Rechte der Frauen seien bereits stark eingeschränkt, die staatlichen Strukturen würden schrittweise aufgehoben. Frauen werden vielerorts gezwungen, sich zu verschleiern.

Die in westlichen Medien verbreitete Darstellung, es handele sich in Ostlibyen um ein einiges befreites Gebiet, haben mit der Realität nichts zu tun. Die einzelnen Städte werden wie Stadtstaaten regiert und an verschiedenem Stellen seien bereits islamische Enirate ausgerufen worden (Emir = Kriegsherr).

29. April 2011 –

Heute Nacht feuerte die libysche Flak mehrere Minuten lang. Ich habe das Brummen von Flugteugen gehört aber keine Einschläge.

Möglicherweise hat man eine Drohne getroffen. Aber das ist reine Spekulation.

30. April 2011 –

Gestern Abend war ich zum Abendessen im Hotel Rixos eingeladen.In diesem Hotel logieren die meisten internationalen Journalisten. Ein Leben zwischen Luxusund Berichterstattung. Bei dieser Gelegenheit konnte ich eine Pressekonferenz verfolgen, die der libysche Regierungssprecher abhielt. Die wichtigsten Punkte seiner Darlegung waren:

Die seit Wochen umkämpfte Hafenstadt Misurata wird weitgehend nicht mehr von den Rebellen kontrolliert. Der Regierungssprecher informierte die Presse über ein Ultimatum an die Rebellen bis zum 3. Mai ihre Waffen an die Stammesführer abzugeben. Dafür würde im Gegenzug Generalamnestie für die libyschen Aufständischen und freier Abzug für ausländische Kämpfer erteilt. Sichere Abzugskorridore würden eingerichtet.

In der kommenden Woche sei eine Generalversammlung aller libyschen Stämme geplant zu der auch Vertreter internationaler Organisationen eingeladen sind. DieStammesführer würden alle mit Namen und Bild vorgestellt um ihre Identität jederzeit überprüfbar zu machen. Bislang haben fast alle libyschen Stämme ihre Teilnahne zugesagt.

Die libysche Regierung ist bereit zu einem sofortigen Waffenstillstand, Verhandlungen ohne Vorbedingungen und freien und allgemeinen Wahlen in ganz Libyen unter internationaler Beobachtung.

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Nach der Pressekonferenz bombardierte die NATO den staatlichen Fernsehsender in Tripolis der sich inmitten eines Wohngebietes befindet. Mehrere Gebäude sind zerstört. Ich bemühe mich um weitere Informationen.

Ebenfalls zerstört wurden eine Betreuungseinrichtung für behinderte Kinder und mehrere Justizgebäude.

1. Mai 2011 –

In dieser Nacht wurde ein ziviles Wohnviertel bombardiert. Ein Sohn Gaddafis und drei Kleinkinder kamen dabei uns Leben. Es war eine gezielte Operation der NATO.

5. Mai 2011 –

Die Bombardierungen halten weiter an. Letzte Nacht wurde ein Unfallkrankenhaus vollkommen zerstört.

— Nachtrag 9. Juni 2011 –

Seit zwei Tagen ist es besonders schlimm. Die NATO bombt Tag und Nacht. Ganze Wohnviertel werden ausradiert. Die Einwohner fliehen nach Tunesien. Überall herrscht Chaos. Die meisten Kommunikationsleitungen sind zerstört … .

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