Offene Worte von J. Karjakin
Mit einem OFFENEN BRIEF von J. Karjakin. Franz Greno. Nordlingen. 1988
Offene Worte
Die Redaktion einer Zeitschrift bittet J. Karjakin, dem Verfasser des offenen Briefes, auf den Brief eines ihrer Leser zu antworten. Es geht dabei um einen Roman von Boris Moshajew “Männer und Frauen”. Karjakin kommt der Bitte nach, und beide Texte gehen in Satz. Doch plötzlich zieht der Leser seinen Leserbrief zurück. Er habe sich ereifert und wohl einiges übereilt, jetzt sei nicht der geeignete Zeitpunkt, gegen Moshajew vorzugehen…
Karjakin will das aber nicht auf sich beruhen lassen. Er wurde beleidigt (“der Brief über Moshajew ist, wie wir uns überzeugen werden, eine direkte Beleidigung …”). Er wurde zum Duell gefordert. Er nimmt die Herausforderung an, erscheint und erfährt dann noch dazu über Dritte -, es sei “nicht der geeignete Zeitpunkt”, gegen ihn “vorzugehen”, man warte nur ab. Dazu kommt noch, daß der Briefeschreiber, der übrigens eine verantwortungsvolle Stellung inne hat, der Redaktion anfangs ein Ultimatum gestellt hatte. Entweder werde sein Brief veröffentlicht, oder … Worauf recht gewichtige politisch-ideologische Drohungen ausgestoßen wurden.
Karjakin wünscht sich in seinem offenen Brief, daß das Zurücknehmen solcher Briefe zu einer echten Massenbewegung würde. In Anspielung auf die Etappen zur Entwicklung des Kommunismus schreibt Karjakin:
“Erste Etappe – bereits abgeschickte Briefe der erwähnten Art schnellstens zurückfordern;
zweite Etappe – keine derartigen Briefe verfassen und abschicken, damit man sie später nicht zurücknehmen muß (sozusagen als Übergangsetappe);
dritte Etappe – überhaupt keine Niederträchtigkeiten gegenüber seinem Nächsten planen (einstweilen noch reine Utopie).”
Leidenschaftlich verteidigt Karjakin Moshajews Roman gegen die Angriffe des Lesers:
“Wenn man nach der Wahrheit sucht, wenn man ein wissenschaftliches Problem lösen will, wenn man mit einem starken, neuen Gedanken beschäftigt ist, mit einer mitreißenden Hypothese, dann ist es immer günstiger, einen ernsthaften, erbarmungslosen Opponenten zu haben, der ein starker Denker ist. Doch wenn es gilt, eine Wahrheit zu verteidigen, die ganz offensichtlich ist, dann wünscht man sich natürlich einen schwächeren Opponenten. Von einem solchen Opponenten, wie Sie es sind, habe ich allerdings nicht einmal zu träumen gewagt. Dem aufmerksamen Leser wird nicht entgehen, daß in Ihrem Stil, in Ihrem wütenden Ton, in allen Ihren Bannsprüchen längst eine gewisse Unsicherheit und Schwäche durchscheint, die von keinerlei gespielter “‘Prinzipien-treue’, ‘Unversöhnlichkeit’, und ‘Treue zu den Grundlagen’ verdeckt werden kann. An die Stelle der militanten Unwissenheit und des starken Willens des siegreichen Bösen ist ein fast mechanisches Lügen getreten, das matt und verwirrt erscheint. Alle Ihre Worte wirken bereits erschöpft, glanzlos, schwach, und je ‘drohender’ sie werden, desto lächerlicher wirken sie. Ein lang erwartetes Zeichen!”
Karjakin erinnert sich in seinem offenen Brief auch an seine Jugend:
“1953/54 machten wir, einige Aspiranten an der philosophischen Fakultät der Moskauer Universität, die Entdeckung, daß Arbeiten unserer wissenschaftlichen Leiter ganz und gar auf Plagiaten und Fälschungen beruhten. (Eine Dissertation war von ihrem Verfasser vorsorglich aus den Bibliotheken entfernt worden.) Wir sprachen und schrieben darüber, später gelangte der Fall auch in die zentrale Presse. Wessen hat man uns daraufhin beschuldigt! Auf wessen Mühlen wir alles Wasser gegossen, wessen Interessen hatten wir ‘objektiv’ nicht gedient, wem wir damit nicht alles in die Hand gespielt hatten! Einmal flüsterte mir sogar einer dieser Wissenschaftler träumerisch ins Ohr: ‘Hätten Sie sich so zwei, drei Jahre früher geäußert – Sie wären zum Lagerkehricht geworden.’ (Später sollte sich herausstellen, daß er auch in dieser Hinsicht, in Hinsicht auf Denunziation, große Erfahrungen hatte.) So sprach der Lehrer zu seinem Schüler! Diese Lehre habe ich niemals vergessen. Leichenkälte wehte mich an.”
Zum Schluß schreibt Karjakin:
“Was will ich mit meinem Brief erreichen? Am allerwenigsten mit Ihnen abrechnen. Als ich Ihren Brief erhielt, ging es mir überhaupt nicht um Sie. Meine Schulden wollte ich bezahlen. Das Abrechnen ist ja wohl Ihre Herzensangelegenheit. Ich wünsche mir nur eines: Wenn Sie selbst nicht arbeiten wollen oder können, dann hindern Sie nicht andere an der Arbeit. Meine letzte Frage an Sie: Wie stehen Sie zu der Neuen Offenheit! Wollen wir so konkret wie möglich sein: Ich bin beispielsweise sehr dafür, daß Ihr Brief veröffentlicht wird. Stimmen Sie auch für die Veröffentlichung meines Briefes?
PS: Beim Lesen des Umbruchs dachte ich immer wieder: Solange der Mensch lebt, ist ihm die Umkehr zur Wahrheit nicht versperrt; man muß trotz allem auf eine Umkehr warten … Doch plötzlich erfahre ich, daß Sie einen neuen Brief abgeschickt haben. (Zurückgefordert haben Sie ihn noch nicht?) Sie fordern darin strengste ‘Maßnahmen’ gegenüber einem Menschen, der es gewagt hat, auf seine Weise (vielleicht auch strittige) über die Umgestaltung nachzudenken. Wieder eine Falle, wieder Verleumdungen. Wieder wollen Sie einen der ‘Unseren’ auf die andere Seite der Barrikade stellen, wollen Revanche für Ihre Angst vor einer Erneuerung nehmen. Ich bin nicht gläubig, doch mir gefällt das Gebot der Alten sehr, daß man bereuen soll, wenn man gesündigt hat. Wie ermutigend ist die Würde jener Menschen, die sich auf der Suche nach der Wahrheit irren und als erste ihren Fehler bekennen, sobald sie sich von ihm überzeugt haben. Diese Menschen bekennen Fehler aufrichtig und offen, weil es ihnen um die Sache, um die Arbeit geht und nicht um die eigene Person. Die Generation, der Sie und ich angehören, hat nicht mehr viel Zeit, die Dinge ins reine zu bringen.”