Widersprüche im imperialistischen Zweckbündnis – die EU in der Krise

Dieses Referat wurde von Beate Landefeld (MASCH Essen) auf einem Seminar der KPÖ Steiermark „Imperialismus, EU und Österreich im 21. Jahrhundert“ am 19.11.2011 in Graz gehalten.

Quelle: www.alice-dsl.net/beatelandefeld/texte/zweckverbund.pdf

Beate Landefeld:
Widersprüche im imperialistischen Zweckbündnis – die EU in der Krise

1 Weltwirtschaftskrise und EU-Krise

Die Weltwirtschaftskrise seit 2007 beschränkte sich nicht auf eine zyklische Krise. Als „große Krise“ ist sie in vielerlei Hinsicht eine Folgekrise der Krise von 1974/75. Seit 1974/75 zeigte sich erneut das Problem der chronischen Überakkumulation, eines Kapitalüberschusses, der sich in der Produktion nicht genügend verwerten läßt. Den Bourgeoisien der reichen kapitalistischen Länder gelang es, ihre Profite mit Hilfe des neoliberalen Regimes wieder zu steigern. Damit schufen sie jedoch die drei großen chronischen Ungleichgewichte, die sich in der jetzigen Krise entladen: Das Ungleichgewicht zwischen Produktion und kaufkräftiger Nachfrage, das Ungleichgewicht zwischen spekulativ aufgeblähtem Finanzsektor und Realwirtschaft, und das Ungleichgewicht zwischen Ländern mit großen Exportüberschüssen und Ländern mit großen Schulden.

Der neue Schub in der Internationalisierung der Produktion und die mit ihm einhergehende Deregulierung der Finanzmärkte haben das kapitalistische System instabiler gemacht. Gretchen Binus hat darauf hingewiesen, dass der Finanzmarkt heute „wesentliche Funktionsbedingung und Weiterentwicklung des Kapitalismus auf seiner monopolistischen Ebene“ ist, da das Kapital nur so „die erforderliche Größe, Beweglichkeit und Elastizität“ erhält, um sich national und international zu verflechten“. (1)

Zugleich zeigen die Destabilisierungspotentiale des Finanzsektors, dass wir es nicht mit einem „organisierten Kapitalismus“ zu tun haben, sondern immer noch mit der „Anarchie des Marktes“. Die „Globalisierung“ hat den Widerspruch zwischen dem gesellschaftlichen Charakter der Produktion und der privaten Aneignung ihrer Ergebnisse verschärft.

Im 5. Jahr der Weltwirtschaftskrise wird eine erneute Rezession befürchtet. Vor allem 2 Krisenherde nähren diese Befürchtung: das stagnierende Wachstum in den USA und die Eurokrise. Als ein gewisser Stabilitätsanker wirken die Schwellen- und Entwicklungsländer mit einem prognostizierten Wachstum von im Schnitt 6,2% und derzeit 34% Anteil am Welt-BIP. Stärker als vor der Krise stützt sich ihr Wachstum mittlerweile auf eigene Nachfrage und Wirtschafts-Beziehungen in Süd-Süd-Richtung. Darin zeigt sich eine Verschiebung im Kräfteverhältnis zugunsten der sogenannten BRIC-Staaten mit China als Lokomotive, während die imperialistischen Zentren aus sich heraus bis heute nicht aus der Krise herausfinden.

Zunächst schien Deutschland schnell aus der Krise heraus zu kommen. Mit dem Maschinenbau und der Automobilindustrie ist es besonders in den Branchen stark, die in den Schwellenländern derzeit nachgefragt werden. Doch dann kam die Eurokrise. Sie ist eine Folge der Ungleichmäßigkeit der Entwicklung innerhalb der EU: Mit wenigen Ausnahmen haben fast alle EU-Länder ein Handelsbilanzdefizit gegenüber der BRD: Die Importe der Bundesrepublik aus diesen Ländern umfassen meist nur 2/3 der Exporte in sie. Waren aus der BRD sind „wettbewerbsfähiger“, weil preigünstiger:
erstens, wegen der höheren Produktivität der deutschen Monopole, und zweitens, aufgrund von Lohndumping, Prekarisierung und Sozialabbau. Die Prekarisierung ist mit der Deindustrialisierung der früheren DDR und dann vor allem im Zuge der Agenda 2010 des Bundeskanzlers Schröder auf breiter Front vorangetrieben worden.

2 Die Rolle des „Stabilitätspakts“ für die deutsche Bourgeoisie

Die Löhne stiegen in der BRD langsamer als in den meisten Nachbarländern. An staatlichen Investitionen in Bildung, Gesundheit, Umwelt und Kultur wurde gespart. Das Lohn- und Sozialdumping, das Sparen an allem, was der Reproduktion der Arbeitskraft dient, firmiert in Deutschland als sogenannte „Stabilitätspolitik“. Real ist es Umverteilung von unten nach oben. Es geht mit Abgabensenkungen für Unternehmen und Reiche einher. Die „Stabilitätspolitik“ trocknet den Binnenmarkt aus.

Die im Inland fehlende Nachfrage wird auf Kredit im Ausland geschaffen. Daran verdienen zusätzlich die Banken. 60% der BRD-Exporte gehen heute in die EU, 41% in die Eurozone.

Die Nachfrage aus der Eurozone wuchs jedoch schon vor der Krise langsamer als die Nachfrage aus den Schwellenländern – darauf weist der frühere Chef des Bundesverbands der Deutschen Industrie und heutige Euro-Kritiker Olaf Henkel hin. Der spanische Regierungsberater Torreblanca äußerte den Verdacht, Deutschland könne sein Interesse an Europa verlieren. Die boomenden Wirtschaftsbeziehungen zu Asien, vor allem zu China, würden die Rolle der EU relativieren und in der Bundesrepublik zu der Ansicht führen, Südeuropa sei vor allem ein „Wachstumshindernis“. (2)

Tatsächlich war die Expansion der deutschen Konzerne nie auf Europa begrenzt. Sie zielte und zielt auf alle relevanten Märkte der Welt. 2011 gingen die neuen Investitionen von VW, RWE, Thyssen, BASF, Siemens und Daimler vor allem in Werke in den USA, Brasilien, Russland, China und Indien.

In der Krise gerieten mehrere Eurozonen-Länder in Zahlungsschwierigkeiten und wurden einem vorläufigen „Rettungschirm“ (EFSF) unterstellt, der 2013 durch den dauerhaften ESM abgelöst werden soll. Gegen die europäischen Rettungsschirme und gegen Staatsanleihekäufe der EZB läuft ein Teil der deutschen Bourgeoisie Sturm. Für sie ist das ein Bruch mit der „Stabilitätspolitik“. Sie war das Erfolgsrezept für die deutsche „Exportweltmeisterschaft“. Sie ging auf Betreiben Deutschlands in das EU-Vertragswerk ein, in Form der „Maastricht-Kriterien“, wonach kein Staat Schulden von mehr als 60% des BIP machen darf und sein Defizit unter 3% liegen muss. Auch die „Unabhängigkeit der EZB“ und das sogenannte „Bailout-Verbot“, wonach kein Staat einen anderen aus seinen Schulden „heraushauen“ darf, sind Teil des „Stabilitätspakts“.

Für eine über stabilitätspolitische Vorgaben hinausgehende Wirtschaftspolitik der Eurozone hat immer nur Frankreich plädiert. Von deutscher Seite wurde sie stets abgelehnt. Man wollte keine gemeinsame staatsmonopolistische Planung, weil man dahinter den Aufbau von Druck für Transferleistungen der Starken an die Schwachen befürchtete. Statt dessen setzte das deutsche Monopolkapital auf die „Disziplinierung durch den Finanzmarkt“. Staaten, die gegen die „Stabilitätskriterien“ verstießen, sollten durch höhere Zinsen bestraft werden. Für die deutsche Bourgeoisie war der „Stabilitätspakt“ die Geschäftsgrundlage für ihre Zustimmung zum Euro. Die gegenwärtige Krise hat diese Geschäftsgrundlage nun ausgehebelt. Es geht aus der Sicht der deutschen Bourgeoisie also ums Eingemachte.

3 Widersprüchliche Interessen der deutschen Bourgeoisie

Ein Teil der Verbissenheit und der Bestrafungsrhetorik, mit der die Merkel-Regierung die „Schuldensünder“ verfolgt, zielt auf den Zusammenhalt des bürgerlichen Lagers in der BRD. Bis in die Reihen von CDU/CSU und FDP sind die Meinungen zur Euro-Rettung geteilt. Man kann grob zwischen einem Lager der Finanzoligarchie sprechen, zu dem die Spitzen der Wirtschaftsverbände und der Konzerne und Banken gehören, und einem zweiten, stärker vom gehobenen Mittelstand geprägten Lager. Das letztere wird vom Verband der Familienunternehmer angeführt. Aus dem gehobenen Mittelstand kommt auch der „FDP-Rebell“ Schäffler. Ein Teil der staatlichen Fraktion der deutschen Finanzoligarchie geht ebenfalls auf Distanz zur Regierung. Das zeigen die EZB-Abgänge. Im Frühjahr 2011 trat Axel Weber vom Chefposten der Bundesbank zurück, im September Jürgen Stark vom Direktorium der EZB. Beide waren bis dahin wichtige Berater der Kanzlerin. Beide gelten als „stabilitätspolitische Falken“. Jürgen Stark wurde einmal von der griechischem Zeitung To Vima als „Rottweiler der Fiskalpolitik“ bezeichnet und die spanische Zeitung El Pais nannte ihn einen „fiskalpolitischen Taliban“.(3)

Der Grund für die Abflüge der Falken war der Ankauf von Staatsanleihen Griechenlands, Italiens und Spaniens durch die EZB. Die Rücktritte waren ein Protest dagegen, dass die Bundesbank, die mit 27% Hauptaktionärin der EZB ist, im EZB-Rat, damals noch unter Trichét, in dieser Frage überstimmt wurde, auch durch Frankreich.

Von außen betrachtet ist der Konflikt eher taktischer Natur. Es ist ein Konflikt auf dem Boden der neoliberalen Ideologie und der „Stabilitätspolitik“: Die „Rebellen“ sehen in der Verletzung des „Stabilitätspakts“ einen Tabubruch und eine verhängnisvolle Richtungsentscheidung. Sie zögen dem eine Spaltung der Eurozone oder den Austritt einiger Länder vor. Dagegen steht die monopolistische Wirtschaft hinter dem Kurs der Kanzlerin, die Eurozone als „Herzstück der EU“ beisammen zu halten. So heißt es in einer Erklärung von Konzernchefs: „Die Rückkehr zu stabilen finanziellen Verhältnissen wird viele Milliarden kosten, aber die Europäische Union und unsere gemeinsame Währung sind diesen Einsatz allemal wert“. (4)

Diese Erklärung aus den Reihen der Finanzoligarchie war mit der Regierung abgesprochen.

Deutlich wird ein Widerspruch in der Interessenlage der deutschen Bourgeoisie: Auf der einen Seite gibt es das Interesse am Euro als Reservewährung und an der EU als Expansionsbasis für die Konkurrenz mit den USA und Asien. Dagegen steht auf der anderen Seite das ebenfalls wichtige Interesse, die „Stabilitätspolitik“ als bewährtes Erfolgsrezept für die globale Wettbewerbskraft der deutschen Konzerne beizubehalten. Der Autor Lucas Zeise bringt es auf die kurze Formel: Man will die EU – aber sie soll nichts kosten.

Für die Weltmarktorientierung und den Druck auf die Kosten der Arbeitskraft stehen alle Teile der Bourgeoisie. Auch die oberen Ränge des Mittelstands agieren heute transnational, oft im Schlepptau der Monopole. Die Großkonzerne scheuen vor allem die politischen Kosten eines Scheiterns der EU. Transferleistungen für ihren Erhalt nehmen sie zeitweilig in Kauf. Die Regierung Merkel versucht, das bürgerliche Lager zu vereinen, indem sie eine „Stabilitätsunion“, propagiert: So wie Deutschland „gestärkt aus der Krise hervorgegangen“ sei, müsse nun ganz Europa getrimmt werden, ebenfalls gestärkt aus ihr hervorzugehen. Dahinter verbirgt sich das Ziel, die übrigen EU-Länder einem Regime zu unterwerfen, welches auf das deutsche „Exportmodell“ zugeschnitten ist.

4 Zwischenimperialistische Widersprüche

Die Hierarchie in der EU richtet sich in erster Linie nach der ökonomischen Stärke. Der Haushalt für die gesamte EU beträgt etwa 130 Mrd. Euro, der Haushalt der BRD über 300 Mrd. Euro.

Das zeigt, wo die Macht sitzt. Für die politische Führung der EU ist die Abstimmung zwischen Deutschland und Frankreich nötig. In der Eurokrise mußte sich Paris immer wieder mit Berlin, das sich als „Zahlmeister der EU“ sieht, arrangieren. Das französisch-britische Vorpreschen im Libyenkrieg hat andererseits gezeigt, dass gegen das deutsche Übergewicht auf ökonomischem Gebiet auch andere „Stärken“ und andere Achsen ins Spiel gebracht werden können. (5)

Frankreich ist auch Exportland, hat aber eine diversifiziertere und stärker binnenorientierte Wirtschaft. Es gehört selbst zu den Schuldnern der BRD und gilt innerhalb der Eurozone als Fürsprecher einer „weicheren“ Linie gegenüber den „Schuldensündern“. Mit der zwischen Merkel und Sarkozy vereinbarten „Wirtschaftsregierung“ verknüpfen beide Seiten unterschiedliche Interessen:

Frankreich will damit Ungleichgewichte abbauen, Deutschland den Stabilitätspakt durch „automatische Sanktionen“ verschärfen. Der Konflikt ist nicht aufgehoben. Der BDI ist gegen die Wirtschaftsregierung: „Wir brauchen keine zentralistische Detailsteuerung“, heißt es auf seiner Homepage. Man wittert hinter der „Wirtschaftsregierung“ das Gespenst der französischen „Planifikation“. Unterschiedliche, nationalspezifische Ausprägungen des staatsmonopolistischen Kapitalismus stoßen
hier aufeinander.

Auch bei den weltweiten Gipfeltreffen G7 oder G20 werden widersprüchliche ökonomische Interessenlagen der kapitalistischen Hauptmächte sichtbar. In den USA gehen 70% des BIP in den Binnenmarkt.

30% des US-BIP kommen aus dem Finanzsektor, der in der Krise schrumpft. Wollen die USA ihre Defizite abbauen, sind sie dringend auf mehr Exporte angewiesen. In Großbritannien kommt das BIP ebenfalls in hohem Maß aus dem Finanzsektor. Da weder die USA, noch die Londoner City sich in ihren Finanzsektor hineinreden lassen, sind Forderungen nach strenger Regulierung der Finanzmärkte, die aus Berlin, Paris oder Brüssel kommen, wohlfeil und meist folgenlos.

Auf der anderen Seite geht fast die Hälfte des BRD-BIPs (46%) in den Export. Die deutschen TNKs wildern in fremden Binnenmärkten, nutzen auch zielstrebig die Konjunkturprogramme anderer Länder aus, um Großaufträge zu ergattern. Auf den G7- oder G20-Gipfeln drängen die USA, GB und der IWF regelmäßig darauf, die BRD solle mehr für den Binnenmarkt tun. Für Merkel und Schäuble zielen solche Forderungen auf die „Bestrafung der Leistungsfähigen“. Sie kontern mit der Forderung, die USA sollten ihre Schulden abbauen. Die kapitalistischen Hauptmächte ziehen also beim internationalen Krisenmanagement nicht an einem Strang. Die Ungleichgewichte werden nicht durch Regulierung, sondern, wenn überhaupt, dann krisenförmig abgebaut. Die Staaten und Notenbanken federn dies nur ab.

5 Die möglichen Folgen für die EU

Die schwarz-gelbe Koalition in Berlin hat sich die Rolle des führenden Krisenmanagers bei der Rettung des Euro sicher nicht herbeigesehnt. Sie ist hineingestolpert. Nach viel Zögern, Hoffen auf Selbstheilung durch den Markt und bombardiert von einer Kakophonie sich widersprechender Experten-Ratschläge, hat Merkels Vorgehen mittlerweile die Umrisse einer Strategie angenommen:

mit kurzfristigen Schritten, die der Eindämmung der akuten Krise dienen sollen und langfristigen Zielen, die unter Ausnutzung der Krise auf den Weg gebracht werden. Kurzfristig wird ein stabilitätspolitisches Tabu nach dem anderen über Bord geworfen. Langfristig soll, sobald wie möglich, der „Stabilitätspakt“ wieder eingehalten und, wie es heißt, „mit Zähnen versehen werden“.

Die kurzfristigen Aktionen zielten bisher vor allem auf die Verhinderung eines Zusammenbruchs des Finanzsystems der EU, wie er von einer ungeordneten Staatsinsolvenz ausgehen könnte. Das Muster ist, dass Länder, bei denen die „Disziplinierung durch den Finanzmarkt“ zu einer nicht mehr tragbaren Zinshöhe geführt hat, zum „Unterschlupf“ unter den „Rettungsschirm“ genötigt werden.

Die disziplinierende Rolle erfüllen dann die „Spardiktate“. Angeblich soll das „Vertrauen der Finanzmärkte“ so wieder hergestellt werden. Obwohl das Rezept in Griechenland schon gescheitert ist, wird es für alle Schuldnerländer weiter verfolgt, vermutlich aus ordnungspolitischen Gründen. Den Menschen soll eingebleut werden, was ihnen blüht, wenn sie ihre Interessen gegen die des Monopolkapitals verteidigen, d.h. aus Sicht der Herrschenden „über ihre Verhältnisse“ leben.

Mittlerweile ist man auf Drängen der USA, Großbritanniens und des IWF dazu übergegangen, die europäischen Banken für den Fall einer Insolvenz Griechenlands zu wappnen: durch Rekapitalisierung über den Finanzmarkt oder den jeweiligen Staat, im Notfall direkt durch den EFSF. Das Volumen des EFSF gilt dem Markt als zu klein und soll „gehebelt“ werden. Dafür werden Investoren gesucht.
Doch China und andere Schwellenländer halten sich zurück. Italiens Staatsanleihen erreichten zeitweilig schon Zinshöhen, die langfristig nicht tragbar sind, und für dieses Land wäre auch
der gehebelte Rettungsschirm zu klein. Die meisten Ökonomen sehen nur noch im unbegrenzten Kauf italienischer Staatsanleihen durch die EZB einen Ausweg. Sie hält schon notleidende Staatsanleihen im Wert von etwa 200 Mrd. Euro.

Kurzfristig ist noch keine Beruhigung in Sicht. Parallel wird aber schon das langfristige Ziel der „Stabilitätsunion“ angegangen. Hier gibt es Planungen in drei Richtungen: Erstens, sollen alle Länder die in der Bundesrepublik bereits in das Grundgesetz implantierte „Schuldenbremse“ übernehmen.

Zweitens, wird eine Art „nachholende Modernisierung“ der weniger „wettbewerbsfähigen“ Länder gefordert, nach dem Vorbild der neoliberalen „Agenda 2010“ der Schröder-Regierung.

Beide Vorhaben lassen sich nur absichern, wenn drittens, bisherige Souveränitätsrechte abgeschafft oder weiter ausgehöhlt werden. So soll künftig von Brüssel aus direkt in die nationale Fiskalpolitik, die Wirtschafts- und Sozialpolitik eingegriffen werden können.

Für diese „Durchgriffsrechte“ sind Änderungen der EU-Verträge erforderlich. Ihre Akzeptanz wird bereits bei den Regierungen sondiert. Wie die portugiesische KP eingeschätzt hat, sollen „… permanente Mechanismen der Einmischung“ installiert werden, „die die Organe demokratischer Souveränität aushöhlen und dazu tendieren, souveräne Länder in Kolonien und Protektorate der
großen kapitalistischen Länder zu verwandeln.“ (6)

Bereits im bisherigen Verlauf wurden 2 Regierungen, die nicht mehr im Sinne der Vorgaben aus Brüssel funktionierten, ausgewechselt und sogenannte „Technokratenregierungen“ installiert. Selbst bürgerliche Feuilletons sprechen von „postdemokratischen“ Zuständen. Den Markt hat es trotzdem nicht beruhigt.

Die PCP hat, bezogen auf Portugal erklärt, dass gegenwärtig „die Verteidigung der nationalen Souveränität entscheidende Wichtigkeit erlangt, um die unabhängige und progressive Entwicklung“ des eigenen Landes zu sichern und „den demokratischen Charakter der Einrichtungen der Republik zu erhalten.“(7)

Bei der Verteidigung bürgerlich-demokratischer Rechte, wie der Haushaltshoheit geht es um künftige Spielräume im Klassenkampf. Es geht darum, Angriffe auf frühere Kampferfolge
abzuwehren. Die Verteidigung nationaler Souveränitätsrechte gegen einen „Durchgriff“ im Monopolinteresse gehört zu den Bedingungen für ein demokratisches Europa. Kurz- und mittelfristig treibt das Spardiktat die Schuldnerländer und tendenziell die ganze EU immer tiefer in einen Strudel nach unten. Selbst Schäuble sagt, Griechenland werde mindestens 10
Jahre brauchen, bevor es sich wieder am Finanzmarkt finanzieren könne. Portugal gleitet derzeit ebenfalls in die Rezession. Nicht wenige bürgerliche Ökonomen prohezeien Europa die „japanische
Krankheit“, eine lange Phase der Stagnation bei gleichzeitig hoher Verschuldung. Ob aber das imperialistische Konstrukt EU die vorgesehene Roßkur überhaupt übersteht oder ob durch ungeordete Staatspleiten oder durch Klassenkämpfe die zentrifugalen Tendenzen die Oberhand gewinnen werden, ist heute eine völlig offene Frage.

6 Zur Rolle der Arbeiterklasse:

In Griechenland, Portugal, Spanien, Italien treten die Gewerkschaften als größte Organisationen der Arbeiterklasse führend im Abwehrkampf gegen Sozialabbau und für die Verteidigung der Demokratie in Erscheinung. In der Bundesrepublik Deutschland ist die Situation bisher nicht so. Das
Vorurteil, die EU-Krise sei eine Staatsschuldenkrise und ganze Völker hätten „über ihre Verhältnisse gelebt“ ist weit verbreitet, besonders bei kleinen und mittleren Unternehmern und großen Teilen der Mittelschichten. Das wirkt auch in die Arbeiterklasse hinein, die mehrheitlich in KMU beschäftigt ist.

In Großbetrieben und Gewerkschaften dominieren Sozialpartnerschaftsilliusionen. Die Gewerkschaftsführer klopfen sich auf die Schulter und sind stolz auf ihre Kooperation mit Regierung und Unternehmern in der Krise, die dazu geführt habe, dass durch Kurzarbeit Entlassungen vermieden werden konnten. Das galt allerdings nur für die Stammbelegschaften. Die Leiharbeiter wurden zunächst massenhaft entlassen – dann aber im Zwischenhoch auch wieder eingestellt. Derzeit sinken die Arbeitslosenzahlen noch, auch im Vergleich zur Situation vor der Krise, allerdings mit schlechteren Arbeitsverhältnissen. Neu geschaffene Arbeitsplätze sind in der Regel prekäre Arbeitsverhältnisse. Die Prekarisierung wird ausgeweitet.

Es gibt verbreitet Illusionen, vom Schlimmsten verschont zu bleiben, wenn „unsere Konzerne“ zu den „Gewinnern der Krise“ gehören. Auch die ständige Propaganda, wonach die Bevölkerung in Griechenland, Italien, Spanien und Portugal heute deshalb so schwer belastet werde, weil die Regierungen es versäumt hätten, rechtzeitig im Sinne der Agenda 2010 zu „modernisieren“, wirkt – und das ist von den Herrschenden natürlich auch beabsichtigt – wie ein nachträgliches Argument für die Agenda 2010, die die Bevölkerung immer noch mehrheitlich ablehnt.

Kommunisten und andere Linke bemühen sich um Aufklärung. Es ist zu verspüren, dass das politische Interesse größer ist, als in anderen Zeiten. Durchaus schon herumgesprochen hat sich, dass die Banken uns das alles eingebrockt haben. Diese Teileinsicht ist auch im Mittelstand verbreitet.

Es verträgt sich allerdings ohne weiteres mit der Sozialpartnerschaft, wenn zwischen gierigen Bankern und fürsorglichen Unternehmern unterschieden wird. Dahinter können sich auch die Großkonzerne verstecken. Wir versuchen daher zusätzliche Zusammenhänge zu vermitteln, wie:

• Die Arbeiterklasse wird durch die „Stabilitätskultur“ doppelt belastet: Erst zahlt sie für die „Wettbewerbsfähigkeit“ der Konzerne mit Lohnverzicht, Prekarisierung und Rentenkürzung
und danach soll sie für die Folgen der ständigen Exportüberschüsse bezahlen, durch Bankenrettungen
auf Kosten des Steuerzahlers.

• Wird die Umverteilung von unten nach oben, die sich hinter der „Stabilitätspolitik“ verbirgt, fortgesetzt, egal in welchem Land, dann verschärft sich der Krisenverlauf und die Unsicherheit nimmt zu, neue Runden des Lohn- und Sozialdumpings werden eingeleitet.

• Für die Krise sollen die Reichen bezahlen. Das Vermögen der reichsten 10% in Deutschland liegt bei 3 Billionen, die Staatsschulden bei 2 Billionen. Das Vermögen allein der Vermögensmillionäre in Europa liegt bei 7,5 Billionen. Die Staatsschulden bei 10 Billionen. Von den Kräfteverhältnissen in der BRD hängt sehr viel ab, weil sie die EU ökonomisch dominiert
und sich anschickt, auch nach dem politischen Diktat über verschuldete Länder zu greifen, anonymisiert durch „automatische Mechanismen“. Daran würde sich auch unter Rot-Grün nichts ändern, denn auch Grüne und SPD stehen für die Agenda 2010 und die „Schuldenbremse“. Steinbrücks Politik während der großen Koalition war keinen Deut anders als die von Merkel und Schäuble. Die Angriffe auf den Lebensstandard der arbeitenden Bevölkerung in den Schuldenstaaten schwächen
auch die Position der Arbeiterklasse bei uns. Auf der anderen Seite gilt: Würden in der BRD höhere Löhne, Senkung des Renteneintrittsalters, Arbeitszeitverkürzung, Investitionsprogramme in Gesundheit, Bildung, Kultur und Ökologie erkämpft werden – würde dies dem weiteren Auseinanderdriften der europäischen Arbeiterbewegung und der Länder Europas entgegenwirken. Es läge in unserem eigenen Interesse und wäre zugleich der effektivste Entlastungsangriff für die Lohnabhängigen in Griechenland, Spanien, Portugal, Italien und Frankreich.

  • 1 G. Binus, Neue Züge im heutigen staatsmonopolistischen System. MB 2-2011, S. 50
  • 2 http://kritische-massen.over-blog.de/article-der-deutsche-umgang-mit-der-krise-riskiert-die-eu-74196858.html
  • 3 Quellen: FAZ 4.3.2010 sowie Jens Berger in den Nachdenkseiten 12.9.2011
  • 4 Handelsblatt.online 17.6.2011
  • 5 Das Vorpreschen Frankreichs und Großbritanniens im Libyenkrieg wurde vom französischen Außenminister als Beispiel für eine „variable Geometrie in der EU“ bezeichnet. Bei der Wirtschaftspolitik spielten, Juppé zufolge, die Länder der Eurozone die wichtigste Rolle; bei der Verteidigungspolitik zeichne sich eine „französisch-britische Achse“ ab.
  • 6 Erklärung der PCP zum Wahlausgang. Pressekonferenz 8.6.2011
  • 7 Ebenda.

Das Referat wurde auf dem Seminar der KPÖ Steiermark „Imperialismus, EU und Österreich im 21. Jahrhundert“ am 19.11.2011 in Graz gehalten.

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