„Zivilgesellschaftliche Prioritäten“ zur Umsetzung von GEAS / Rechtsentwicklung und Linke Gegenbewegung
Gemeinsames Statement von
26 Bundesorganisationen

Zivilgesellschaftliche Prioritäten für die gesetzliche Umsetzung der
Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems in
Deutschland
Berlin, 16. Juli 2024
Die unterzeichnenden Organisationen unterstützen seit Jahren geflüchtete Menschen in rechtlichen, aufnahmebezogenen, sozialen, medizinischen und therapeutischen Belangen. Faire Asylverfahren und menschenwürdige Aufnahmebedingungen sind unser Ziel, wie auch das der Bundesregierung.
Die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) wurde im Juni 2024 verabschiedet und gilt ab dem Sommer 2026. Die Zivilgesellschaft hat die Reform mehrfach als starke Verschärfung des europäischen Asylrechts kritisiert, die den Schutz von fliehenden Menschen in der EU gefährdet.
Diese Kritikpunkte bleiben auch nach dem Beschluss der Verordnungen und der Richtlinie bestehen.
Einige Mitgliedstaaten fordern bereits weitere Verschärfungen zur Auslagerung des Flüchtlingsschutzes, wodurch die neuen Regelungen politisch in Frage gestellt werden. Eine nicht
menschenrechtskonforme Umsetzung würde die Erosion rechtsstaatlicher Standards in der EU weiter vorantreiben.
Diesem Trend sollte sich die Bundesregierung mit besonderer Sorgfalt bei der Umsetzung entgegenstellen und die Achtung der Menschenrechte stets in den Fokus nehmen. Die unterzeichnenden Organisationen betonen, dass EU-Recht immer entsprechend der EUGrundrechtecharta (GRCh) menschenrechtskonform angewendet werden muss und so z.B. das Recht auf Asyl, das Recht auf Freiheit und das Recht auf einen effektiven Rechtsbehelf geachtet werden müssen. Zudem müssen einschlägige internationale Verträge wie die UN-Kinderrechtskonvention oder die UN-Behindertenrechtskonvention eingehalten werden.
Für die gesetzliche Umsetzung der neuen Rechtsakte1
in Deutschland machen die unterzeichnenden
Organisationen auf folgende wichtige Punkte aufmerksam, die im Folgenden kurz ausgeführt werden:
● Starkes Menschenrechts-Monitoring
● Vulnerable Gruppen identifizieren und schützen
● Faire und sorgfältige Asylverfahren
● Unabhängige und durchgängige Asylverfahrensberatung
● Rechtsschutz stärken
● Keine Inhaftierung schutzsuchender Menschen
● Kinder schützen und unterstützen
● Menschenwürdige Aufnahme
Diese Ausführungen sind nicht abschließend und sind unter hohem Zeitdruck entstanden, um eine frühzeitige Berücksichtigung der zivilgesellschaftlichen Expertise zu ermöglichen. Dies ersetzt
ausdrücklich nicht die angemessene Verbändebeteiligung bei Vorliegen eines Referentenentwurfs.
Für diese sollten angesichts der Komplexität der Regelungen schon jetzt mindestens zwei Wochen eingeplant werden. Wir möchten zudem darauf hinweisen, dass die Umsetzung der Reform durch
eine angemessene Finanzierung getragen werden muss.
1 Screening-Verordnung 2024/1356 (Screening-VO), Asylverfahrensverordnung 2024/1348 (AVVO), Aufnahmerichtlinie
2024/1346 (AufnahmeRL), Verordnung über ein Asyl- und Migrationsmanagement 2024/1351 (AMM-VO), Krisenverordnung
2024/1359, Qualifikationsverordnung 2024/1347, Grenzrückführungsverordnung 2024/1349, Resettlementverordnung 2024/1350, Screening-Konsistenz-Verordnung 2024/1352, Eurodac-Verordnung 2024/1358,
Zivilgesellschaftliche Prioritäten für die gesetzliche Umsetzung der GEAS-Reform in Deutschland
3
STARKES MENSCHENRECHTS-MONITORING
Das neue Erfordernis eines unabhängigen Menschenrechts-Monitorings ist eine der wenigen
positiven Regelungen der Reform. Angesichts der massiven Menschenrechtsverletzungen an den
EU-Außengrenzen braucht es starke Überwachungsmechanismen, um diesen etwas entgegensetzen
zu können. Auch auf Deutschland kommen mit dem Wechsel vom Flughafenverfahren zum neuen
Außengrenzscreening und -grenzasylverfahren große Veränderungen zu. Um hier für
menschenrechtskonforme Bedingungen zu sorgen, braucht es ein starkes Monitoring. So kann die
deutsche Umsetzung auch Vorbild für andere EU-Länder sein.
- Unabhängiger Überwachungsmechanismus: Es muss ein eigenständiger und
unabhängiger Monitoring-Mechanismus für das Screening eingerichtet werden (Art. 10 Abs. 2
Screening-VO), der sinnvollerweise auch für das ebenfalls verpflichtende Monitoring im
Asylgrenzverfahren zuständig ist (Art. 43 Abs. 4 AVVO). Eine behördliche Rechts- und
Fachaufsicht würde hierfür nicht genügen. Es sollte vielmehr durch gesetzliche Regelungen
sichergestellt werden, dass der Mechanismus unabhängig ist, vor allem hinsichtlich der
Wahrnehmung der Aufgaben, der Auswahl der Mitarbeitenden und der Finanzierung. In
Deutschland kommen das Deutsche Institut für Menschenrechte sowie die Nationale Stelle
zur Verhütung von Folter für diese Aufgabe in Frage (vgl. Art. 10 Abs. 2 UA 4 Screening-VO). - Jährlicher Bericht an den Bundestag: Die in Art. 10 Abs. 2 UA 3 Screening-VO geregelte
Befugnis des Überwachungsmechanismus, jährliche Empfehlungen an die Mitgliedstaaten
abzugeben, sollte gesetzlich dahingehend konkretisiert werden, dass die Monitoringstelle
mindestens jährlich einen Bericht über ihre Tätigkeit, Erkenntnisse und Empfehlungen an den
Deutschen Bundestag abgibt und die Bundesregierung hierzu Stellung nimmt. Nur dann ist
eine wirkliche Auseinandersetzung mit den Empfehlungen sichergestellt. - Einrichtung eines bundesweiten Konsultativforums: Art. 10 Abs. 2 UA 4 Screening-VO
sieht die enge Zusammenarbeit der nationalen Monitoringstellen mit einschlägigen
Nichtregierungsorganisationen sowie den nationalen Datenschutzbehörden und dem
Europäischen Datenschutzbeauftragten vor. Für diesen Austausch sollte ein bundesweites
Konsultativforum eingerichtet werden. Bezüglich der Abschiebungsbeobachter*innen wurden
mit den sie begleitenden Foren („Flughafenforen“) gute Erfahrungen gemacht und sie können
entsprechend als Modell übernommen werden. Dies hätte den Vorteil, dass in unmittelbarem
Austausch der fachlich kompetenten Akteure entstehende Probleme beim Grundrechtsschutz
direkt angesprochen, diskutiert und idealerweise gelöst werden können.
VULNERABLE GRUPPEN IDENTIFIZIEREN UND SCHÜTZEN
Besonders vulnerable Gruppen wie Minderjährige, Menschen mit Behinderungen, Personen, die
aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Identität verfolgt werden (LSBTI+),
Überlebende schwerer Gewalt oder Folter und Betroffene von Menschenhandel haben ein Recht auf
besondere Unterstützung, damit das Asylverfahren für sie fair ist und die Aufnahmebedingungen
angemessen. Um dies zu gewährleisten ist vor allem Folgendes notwendig: - Mindestens zweistufige Identifizierung besonderer Schutz- und Aufnahmebedarfe: Die
Zuständigkeit für die Durchführung der Vulnerabilitätsprüfung im Screeningverfahren als
Verfahrensschritt vor dem Asylverfahren muss bei den dafür zuständigen Behörden (BAMF
und für die Aufnahme zuständige Landesbehörden), nicht bei der Polizei liegen (Art. 2 Abs.
10 iVm Art. 12 Abs. 3 Screening-VO). Gesetzlich ausdrücklich zu regeln ist außerdem, dass
vor einer Verteilung auf die Bundesländer zumindest eine erste Identifizierung von
Vulnerabilitäten erfolgt sein muss und die identifizierten Vulnerabilitäten bei der Verteilung zu
berücksichtigen sind (Art. 7 Abs. 3, Art. 25 Abs. 1 AufnahmeRL iVm Art. 4 Abs. 1 b
Screening-VO). Dies gilt genauso für neu ankommende Geflüchtete, die nicht unter die
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Screening-VO fallen, weil sie etwa in einem anderen Mitgliedstaat bereits gescreent wurden
(Art. 7 Abs. 3, Art. 25 Abs. 1 AufnahmeRL). Es ist von der Möglichkeit Gebrauch zu machen,
neben der Prüfung von Aufnahmebedarfen die Länder zusätzlich mit der Ermittlung
besonderer Verfahrensgarantien nach der AVVO zu beauftragen (Art. 20 Abs. 1 S. 2 AVVO),
auch um im Bedarfsfall erneute oder zusätzliche Identifizierungsmaßnahmen einzuleiten. - Gewährleistung hoher Qualität der Identifizierung von Schutz- und
Versorgungsbedarfen: Oberste Priorität muss sein, dass eine Beteiligung von fachkundigen
Nichtregierungsorganisationen und medizinischen Fachexpert*innen bei der Konzeption und
Durchführung etwaiger Identifizierungsverfahren in jedem Verfahrensschritt gesetzlich
verankert (Art. 12 Abs. 3 S. 2 Screening-VO, bspw. auch Art. 11 Abs. 4 MenschenhandelRL)
und finanziert wird (Art. 8 Abs. 9 UA 4 Screening-VO). Eine Aufklärung zu und Vorbereitung
auf Maßnahmen der Vulnerabilitäts-Ermittlung durch unabhängige, spezialisierte
Rechtsberatung vom Anfang des Screenings an ist ebenfalls unabdingbar (Art. 11 Abs. 4
Screening-VO, Art. 15 AVVO, siehe Punkt “Unabhängige und durchgängige
Asylverfahrensberatung”). Auch die Verfahrensgarantien für die Identifizierung aus Art. 25
Abs. 1 UA 1 und Abs. 2 S. 1 AufnahmeRL (bspw. Sprachmittlung und eine detaillierte
Dokumentationspflicht der Behörden) müssen gesetzlich umgesetzt werden. - Übermittlung von Daten zwischen Behörden: Jegliche Identifizierungs-Maßnahme zu
Vulnerabilitäten muss in eine schriftliche Dokumentation münden, die der Person
ausgehändigt wird (Art. 17 Abs. 3 UA 3 Screening-VO, vgl. Art. 25 Abs. 2 S. 1 b)
AufnahmeRL). Die ermittelten Bedarfe werden unter informierter Einwilligung
datenschutzkonform nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und Datensparsamkeit an
die zuständigen Behörden übermittelt (Art. 18 Abs. 1 UA 2 ScreeningVO, Art. 20 Abs. 1 S. 3
AVVO). Es bedarf hier einer expliziten gesetzlichen Klarstellung, dass diese Behörden alle
mit der Gewährung von Aufnahme- und Verfahrensbedarfen betrauten Behörden sind. - Versorgungsanspruch aus identifizierten Schutzbedarfen: Ein Anspruch auf die
Gewährung festgestellter besonderer Bedarfe ist explizit im Gesetz festzuschreiben (Art. 25
Abs. 2 S. 2 AufnahmeRL). Eine den ermittelten Bedarfen entsprechende Unterbringung und
gesundheitliche Versorgung gemäß der AufnahmeRL erfordern eine rechtliche Festlegung,
welche Leistungen aufgrund des Bedarfs gewährt werden. Dazu muss der entsprechende
Leistungsumfang und der Kostenträger gesetzlich eindeutig bestimmt werden. Dies betrifft
unter anderem eine geeignete psychologische Betreuung für Überlebende schwerer Gewalt
oder Folter (Art. 22, 28 AufnahmeRL), Teilhabe- und Pflegeleistungen für Menschen mit
Behinderung (Art. 19 Abs. 2 AufnahmeRL iVm Art. 26 GRCh, Art. 22, Art. 25 Abs. 2 S. 2
AufnahmeRL) sowie bedarfsgerechte Unterbringung (Art. 20, Art. 26 AufnahmeRL). Auch die
Kostenübernahme für erforderliche Sprach- und Kulturmittlung muss gesetzlich verankert
werden.
FAIRE UND SORGFÄLTIGE ASYLVERFAHREN
Faire und sorgfältige Asylverfahren sind der Schlüssel dafür, dass verfolgte Menschen Schutz
bekommen. In Deutschland gibt es – trotz bestehender Kritikpunkte – grundsätzlich einen hohen
Standard im Asylverfahren, der zu halten ist. Wenn die Asylverfahren nicht gut funktionieren, dann
verlagert sich die Arbeit im Zweifelsfall auf die Gerichte und führt dort zu Überlastung. - Anpassung des deutschen Asylgesetzes: Statt das Asylgesetz durch Streichungen zu
verkomplizieren, sollte es gemäß der GEAS-Reform angepasst werden. Dies betrifft neben
den Verfahrensnormen auch die Definitionen von „Familie“ und „Familienangehörigen“,
schutzbietenden Akteuren, internem Schutz und dem Verfolgungsgrund „Zugehörigkeit zu
einer bestimmten sozialen Gruppe“. Eine solche Verfahrensweise wäre auch mit der EuGHRechtsprechung vereinbar, insbesondere da die Reform ohnehin nationale
Umsetzungsspielräume beinhaltet.
Zivilgesellschaftliche Prioritäten für die gesetzliche Umsetzung der GEAS-Reform in Deutschland
5 - Keine neuen “sicheren Drittstaaten”: Zulässigkeitsentscheidungen im Asylverfahren
bleiben optional für Mitgliedstaaten (Art. 38 AVVO). Abgesehen von dem separaten DublinRegime, spielen Unzulässigkeitsentscheidungen wegen angeblich sicherer Drittstaaten in
Deutschland bislang keine Rolle. Es ist auch nicht zielführend, durch neue „sichere
Drittstaaten“ eine andere Praxis aufzubauen, da dies praktisch nur sehr schwer durchsetzbar
sein würde und die Asylverfahren bzw. den Zugang zu Schutz stark verzögern würde. Dies
ergibt sich aus den Stellungnahmen der Sachverständigenanhörungen des BMIs. - Keine Ausweitung von o.u.-Entscheidungen oder “sicheren Herkunftsstaaten”: Durch
Art. 42 AVVO werden in vielen Fällen beschleunigte Asylverfahren zur Pflicht. Dies bedeutet
auch kürzere Klagefristen (vgl. Art. 67 Abs. 7 a) AVVO) und keine aufschiebende Wirkung der
Klage (vgl. Art. 68 Abs. 3 a) i) AVVO), was bereits eine große Benachteiligung für die
Betroffenen und eine nicht zu unterschätzende Herausforderung für Anwält*innen wäre. Da
die Regelung nur „unbeschadet des Grundsatzes der Nichtzurückweisung“ gilt und dieser
eine aufschiebende Wirkung von Rechtsbehelfen erfordert, muss aber auch in diesen Fällen
die aufschiebende Wirkung der Regelfall sein. Die Bundesregierung sollte die Rechtslage
nicht weiter verschärfen und keine weiteren o.u.-Gründe einführen oder neue „sichere
Herkunftsstaaten“ benennen, insbesondere nicht wenn bestimmte Teilgebiete oder
Personengruppen (z.B. LSBTI+) in dem Land eindeutig nicht sicher sind (vgl. BVerfG).
UNABHÄNGIGE UND DURCHGÄNGIGE ASYLVERFAHRENSBERATUNG
Eine unabhängige Asylverfahrensberatung ist ein entscheidender Faktor für faire Asylverfahren und
wirkt sich auch positiv auf die Abläufe im Asylverfahren aus. Entsprechend gut sollten die
Möglichkeiten der Verordnungen für ein starkes Beratungssystem genutzt werden. Eines der Ziele der
Reform ist es, Rechtsberatung durchgängig in allen Verfahrensstadien zu gewährleisten. - Asylverfahrensberatung weiterhin gesetzlich verankern: Die Garantie einer
angemessenen und unabhängigen Rechtsberatung ist unter Berücksichtigung der unlängst
eingeführten Asylverfahrensberatung (§12a AsylG) als konkretisierende bundesgesetzliche
Regelung des Art. 15 Abs. 3 AVVO weiterhin gesetzlich zu verankern. Diese muss sowohl die
unabhängige Asylverfahrensberatung als auch die besondere Rechtsberatung für vulnerable
Personen in allen Verfahrensschritten sicherstellen. Neben der gesetzlichen Regelung muss
die ausreichende Bundesfinanzierung sichergestellt werden, um den tatsächlichen Zugang
gewährleisten zu können. - Rechtsberatung von Anfang an und überall: Der Zugang sowohl zur unabhängigen
Asylverfahrensberatung als auch zur besonderen Rechtsberatung für vulnerable Personen
muss explizit bereits im Screeningverfahren und auch im Grenzverfahren sichergestellt
werden. Gerade wenn Asylsuchende sich nicht frei bewegen dürfen, ist es essentiell, dass
Beratungsorganisationen uneingeschränkten Zugang zu den Einrichtungen haben. Bezüglich
des Screenings sollte geregelt werden, dass Informationen durch NGOs erteilt werden (Art.
11 Abs. 4 Screening-VO). - Rechtliche Unterstützung ohne Ausnahmen garantieren: Art. 19 Abs. 2, Abs. 3 iVm Art.16
Abs. 3 und Art.17 Abs. 2 AVVO gibt Mitgliedstaaten die Möglichkeit, den Rahmen der
Rechtsauskunft, -beratung und -vertretung näher auszugestalten. Bei der Ausgestaltung
sollte ein uneingeschränktes Recht auf Unterstützung für alle Antragstellenden verankert
werden, unabhängig von der finanziellen Situation der Antragstellenden und unabhängig von
der Erfolgsaussicht oder der Instanz der rechtlichen Unterstützung.
RECHTSSCHUTZ STÄRKEN
Nur mit einem funktionierenden Rechtsschutz können wir von einem fairen Asylsystem sprechen.
Schon jetzt arbeiten Rechtsanwältinnen und Richterinnen in Deutschland unter hohem Druck. Um
Zivilgesellschaftliche Prioritäten für die gesetzliche Umsetzung der GEAS-Reform in Deutschland
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den effektiven Rechtsschutz zu garantieren, sollten folgende Punkte bei der Umsetzung
berücksichtigt werden: - Angemessene Fristen für den Rechtsschutz: Bezüglich der Rechtsschutzfristen wird den
Mitgliedstaaten ein gewisser Spielraum zugestanden, den Deutschland positiv nutzen sollte,
um effektive Rechtsvertretung zu ermöglichen. So sollte für Entscheidungen nach einem
beschleunigten Prüfverfahren eine Frist von zehn Tagen für den Rechtsbehelf und bei einer
Entscheidung in anderen Fällen eine Frist von einem Monat festgelegt werden (vgl. Art. 67
Abs. 7 AVVO). - Angemessene Dauer des Rechtsbehelfsverfahrens: Laut Art. 69 AVVO sollen die
Mitgliedstaaten angemessene Fristen für das Rechtsbehelfsverfahren in erster Instanz
festlegen, wobei ebenso festgehalten wird, dass dies eine angemessene und vollständige
Prüfung des Rechtsbehelfs nicht beeinträchtigen darf. Bei der MPK im November 2023 wurde
eine Frist von sechs Monaten diskutiert. Dies geht jedoch an der Realität vieler
Verwaltungsgerichte vorbei und würde einen Druck verursachen, der zu Lasten sorgfältiger
Prüfungen gehen könnte. Anstatt enge Fristen gesetzlich zu regeln – an die Richter*innen
letztlich nicht gebunden sind – sollte eine bessere personelle Ausstattung der Gerichte
sichergestellt werden, die eine sorgfältige und schnelle Bearbeitung gewährleistet. - Rechtsmittel zur Überprüfung der Außengrenz-Screeningentscheidung normieren:
Effektiver Rechtsschutz iSd Art. 13 EMRK und Art. 19 Abs. 4 GG setzt voraus, dass sich
Betroffene auch gegen die Screeningentscheidung wehren können, wenn es um die Zuteilung
zum Außengrenzverfahren geht. Aus Sicht der Organisationen müssen die Mitgliedstaaten
deshalb auch einen Rechtsbehelf zur Überprüfung der Entscheidung vom
Außengrenzscreening schaffen. Die Bundesregierung sollte deshalb bereits jetzt aus
Gründen der Rechtsklarheit und des effektiven Rechtsschutzes einen konkreten Rechtsbehelf
normieren. Dieser Rechtsbehelf sollte auch gegen Altersangaben, negativ entschiedene
vorläufige Vulnerabilitätsprüfungen und die Verpflichtung zum Verbleib im Grenzverfahren
einschlägig sein.
KEINE INHAFTIERUNG SCHUTZSUCHENDER MENSCHEN
Die unterzeichnenden Organisationen befürchten, dass die Reform durch das Außengrenz-Screening
und neue Grenzverfahren zur (de facto) Inhaftierung von Schutzsuchenden führen wird, was ihre
psychische Belastung erhöhen und faire Asylverfahren erschweren würde. Allein die Tatsache, dass
die asylsuchende Person theoretisch ausreisen könnte – und damit auch ihren Asylantrag
zurückziehen würde -, reicht nicht, um eine Freiheitsentziehung tatbestandlich zu verneinen. Letztlich
kommt es nicht auf die Bezeichnung an, sondern auf die tatsächlichen Umstände. Besonders
problematisch sind Situationen der de facto Inhaftierung, in denen den Personen Richtervorbehalt und
Klagemöglichkeiten vorenthalten werden. - Keine Haft während des Screenings: Gem. Art. 6 und Art. 7 Abs. 1 Screening-VO müssen
die Mitgliedstaaten Regeln erlassen, um sicherzustellen, dass die Personen sich dem
Screening nicht entziehen. Hierfür sollten klare Alternativen zur Haft wie Meldeauflagen
festgelegt werden, da die Inhaftierung stets nur als letztes Mittel angewendet werden darf
(vgl. ErwG. 11 und Definition der Inhaftnahme in Art. 2 Abs. 12 Screening-VO). Gerade beim
Screening im Inland ist auch nicht mit Fluchtgefahr zu rechnen – denn die Menschen wollen in
Deutschland ihr Asylverfahren durchlaufen. Somit wären auch keine Einschränkungen der
Bewegungsfreiheit gerechtfertigt. - Keine (de facto) Haft während des Grenzverfahrens: Asylsuchende dürfen nicht inhaftiert
werden, nur weil sie einen Asylantrag gestellt haben oder aus einem bestimmten Staat sind.
Die Möglichkeit, Asylsuchende während des Grenzverfahrens zu inhaftieren, ist vor diesem
Hintergrund und angesichts der vorgesehenen Dauer der Grenzverfahren mehr als
Zivilgesellschaftliche Prioritäten für die gesetzliche Umsetzung der GEAS-Reform in Deutschland
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fragwürdig (Art. 10 Abs. 4 d AufnahmeRL). Auch eine Einschränkung der Bewegungsfreiheit –
z.B. durch Beschränkung auf eine Unterbringung – muss individuell begründet werden, z.B.
mit Fluchtgefahr (Art. 9 Abs. 1 AufnahmeRL). Eine Fluchtgefahr ist idR nicht anzunehmen,
wenn die Menschen in Deutschland Asyl bekommen wollen. - Keine Inhaftierung bei der Gefährdung von vulnerablen Personen: Die Inhaftierung von
Schutzsuchenden mit besonderen Bedürfnissen ist ausgeschlossen, wenn die Haft ihre
körperliche und psychische Gesundheit ernsthaft gefährdet (Art. 13 Abs. 1 UA 2
AufnahmeRL). Dieser Ausschlussgrund muss explizit gesetzlich geregelt werden. Für die
effektive Umsetzung bedarf es einer von Amts wegen zu erfolgenden ärztlichen und
psychologischen Untersuchung vor Inhaftnahme, um die etwaige Gesundheitsgefährdung zu
prüfen. Kinder sollten nie inhaftiert werden, da eine Haft im Asylverfahren dem Kindeswohl
immer zuwiderläuft (vgl. ErwG. 31 und 40 sowie Art. 13 Abs. 2 und Art. 26 AufnahmeRL). - Haftbedingungen: Die Inhaftierung von Asylsuchenden darf keinen Strafcharakter haben
(Art. 10 Abs. 1 S. 3 AufnahmeRL). Daher ist zwingend eine gesonderte Unterbringung nötig,
die sich von Strafhaft unterscheidet (z.B. eigene Kleidung, Mobiltelefonnutzung). Inhaftierte
Schutzsuchende müssen Beratung und Besuch empfangen können und Einschlusszeiten
sollten minimal sein. Die Höchstfristen für die Überprüfung der Haftanordnung gemäß Art. 10
Abs. 3 UA 1 AufnahmeRL müssen gesetzlich verankert werden.
KINDER SCHÜTZEN UND UNTERSTÜTZEN
Kinder und Jugendliche gehören zu den besonders vulnerablen Personen und haben spezielle
Bedarfe und Rechte, die berücksichtigt werden müssen. Ihre besonderen Rechte, allen voran das
Kindeswohl, müssen zu jeder Zeit gewährleistet sein, egal woher ein Kind kommt oder welchen
Aufenthaltsstatus es hat. Dies muss sich auch bei der Umsetzung der GEAS-Reform durchsetzen.
Dabei gilt es insbesondere folgende Punkte zu beachten: - Primäre Zuständigkeit der Kinder- und Jugendhilfe für unbegleitete minderjährige
Geflüchtete: In Deutschland gilt das Primat der Jugendhilfe nach SGB VIII. Die öffentlichen
Träger der Kinder- und Jugendhilfe sind vorrangig für die Unterbringung, Versorgung und
Vertretung von unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten zuständig. Die vorläufige
Inobhutnahme erfolgt durch die Jugendämter und die Feststellung besonderer Schutzbedarfe
muss ausschließlich im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe verbleiben. Der
Alterseinschätzung bei unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten (als Zugangsvoraussetzung für den Minderjährigenschutz) kommt in diesem Kontext eine besondere
Bedeutung zu. Sie muss daher zwingend in der Verantwortung der Jugendämter bleiben. - Zulässigkeitsentscheidung: Bei der Überstellung von Minderjährigen ist Art. 24 GRCh zu
beachten. Unbegleitete minderjährige Geflüchtete sollten daher nie überstellt werden, es sei
denn dies dient nachweislich dem Kindeswohl. - Keine segregierte Beschulung: Minderjährige haben den gleichen Zugang zu Bildung wie
deutsche Staatsangehörige und sind mit ihnen in einer Schule zu unterrichten (Art. 16
AufnahmeRL). Es muss gewährleistet sein, dass minderjährige Schutzsuchende
schnellstmöglich in das reguläre Schulsystem aufgenommen werden. Die ausschließliche und
segregierende Beschulung in Unterbringungszentren und/oder Willkommensklassen ist mit
der neuen AufnahmeRL unvereinbar. Die Schulgesetze der Länder müssen dies normieren.
SCHUTZSUCHENDE MENSCHENWÜRDIG VERSORGEN
In Deutschland asylsuchende Menschen müssen menschenwürdig versorgt und aufgenommen
werden. Dies ist auch Grundlage dafür, dass das Erlernen der Sprache, die Arbeitssuche und
letztendlich die gesellschaftliche Teilhabe gelingen können. Ein ausgrenzendes Sondergesetz, wie
Zivilgesellschaftliche Prioritäten für die gesetzliche Umsetzung der GEAS-Reform in Deutschland
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das Asylbewerberleistungsgesetz, verletzt nach Sicht der unterzeichnenden Organisationen die
Menschenwürde und muss abgeschafft werden. Bis das geschieht, sind angesichts der neuen
Aufnahmerichtlinie vor allem folgende Änderungen vorzunehmen: - Asylbewerberleistungsgesetz als absolutes Minimum: Die Leistungen nach dem AsylbLG
liegen auf dem niedrigsten Niveau, das geleistet werden muss, um ein menschenwürdiges
Leben entsprechend Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 34 Abs. 3 GRCh zu gewährleisten. Die bereits
bestehenden Sanktionen nach dem AsylbLG sind verfassungs- und europarechtswidrig. Auch
die Aufnahmerichtlinie gibt klar vor, dass für alle Geflüchteten ein der Charta und
internationalen Verpflichtungen entsprechender Lebensstandard und voller Zugang zu
Gesundheitsleistungen des Art. 22 ohne Ausnahme zu gewähren ist (Art. 23 Abs. 4 S. 3
AufnahmeRL). Die Kürzungen des AsylbLG sind somit abzuschaffen und es dürfen keine
neuen eingeführt werden. Dies gilt insbesondere auch bei “Dublin-Entscheidungen” (Art. 18
Abs. 1 UA 2 AMM-VO, Art. 21 Abs. 1 S. 2 AufnahmeRL). - Anpassung der Gesundheitsleistungen und elektronische Gesundheitskarte: Die
Ergänzungen zu Gesundheitsleistungen nach Art. 22 AufnahmeRL, einschließlich der
Gesundheitsversorgung im Bereich reproduktiver und sexueller Gesundheit sowie Heil- und
Hilfsmittel, sollten konkret im deutschen Sozialgesetz verankert werden. Ein behördliches
Ermessen und Antragsverfahren, wie nach § 6 AsylblG vorgesehen, ist nicht mit Art. 22 Abs.
3 der Richtlinie vereinbar. Um Verfahren zu entbürokratisieren und eine angemessene
Qualität der medizinischen Versorgung sicherzustellen (vgl. Art. 22 Abs. 1 S. 3 AufnahmeRL),
sollte für alle Geflüchteten flächendeckend die elektronische Gesundheitskarte (EGK)
eingeführt werden. Dies gilt insbesondere bei Kindern, die nach der neuen AufnahmeRL
Anspruch auf dieselbe Art der Gesundheitsversorgung haben wie Staatsangehörige (Art. 22
Abs. 2 AufnahmeRL). - Zweifel an Bezahlkarte: Aus den Vorgaben der AufnahmeRL, insbesondere Art. 19 Abs. 2,
ergeben sich erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Bezahlkarte in ihrer aktuellen
Form. Die starke Einschränkung der ökonomischen Autonomie gewährleistet keinen
„angemessenen Lebensstandard“ im Sinne des Art. 19 Abs. 2 AufnahmeRL. Geflüchteten
muss “ein Mindestmaß an Eigenständigkeit” ermöglicht werden, was durch die Bezahlkarte
nicht erreicht wird (ErwG. 8 S. 1 AufnahmeRL). Eine Kombination aus Gutscheinen, Sachund Geldleistungen ist zwar zulässig, solange ein Geldbetrag enthalten ist (ErwG. 8 S. 2
AufnahmeRL). Ein symbolischer Betrag von 50 Euro im Monat, der Geflüchtete vom sozialen
Leben ausschließt, erfüllt die Mindeststandards der AufnahmeRL jedoch voraussichtlich nicht.
Zivilgesellschaftliche Prioritäten für die gesetzliche Umsetzung der GEAS-Reform in Deutschland
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Unterzeichnende Organisationen (alphabetisch)
Amnesty International Deutschland e.V.
Arbeitsgemeinschaft Migrationsrecht im Deutschen Anwaltverein
Ärzte der Welt e.V.
AWO Bundesverband e.V.
BumF e.V.
Bundesweite Arbeitsgemeinschaft Psychosozialer Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer – BAfF e.V.
Bundesarbeitsgemeinschaft PRO ASYL e.V.
Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband – Gesamtverband e.V.
Deutsches Kinderhilfswerk e.V.
Diakonie Deutschland Evangelisches Werk für Diakonie und Entwicklung e.V.
Die Sputniks e.V. Vereinigung russischsprachiger Familien mit Kindern mit Beeinträchtigungen in
Deutschland
Fachstelle Kinderwelten für Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung
Handicap International e.V.
Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland e.V. (ISL)
Jesuiten-Flüchtlingsdienst Deutschland
Jugendliche ohne Grenzen in Deutschland e.V.
Kindernothilfe e.V.
KOK – Bundesweiter Koordinierungskreis gegen Menschenhandel e.V.
Landesflüchtlingsräte
Lesben- und Schwulenverband Deutschland e.V.
National Coalition Deutschland – Netzwerk zur Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention
Neue Richter*innenvereinigung e.V. (NRV)
Republikanischer Anwältinnen und Anwälteverein e.V. (RAV)
Save the Children e.V.
SOS-Kinderdorf e.V.
terre des hommes Deutschland e.V

Das Gemeinsame Statement von 26 Bundesorganisationen, das „menschenrechtskonforme gesetzliche Umsetzung der GEAS-Reform“ fordert, ist dem Bundesministerium des Inneren und für Heimat zufolge aber eine entsetzliche Verleumdung, denn es schreibt hier,
https://www.bmi.bund.de/DE/themen/migration/asyl-fluechtlingsschutz/asylsystem-geas.html
dass alle Appelle unnötig sind, und sogar böse Unterstellungen: Alle Menschenrechte würden eingehalten, und alles sei gut. GEAS diene sogar dazu „das Europa der offenen Grenzen“ zu retten.
Immerhin stellen die braven 26 Bundesorganisationen das GEAS nicht in Frage,
sondern wollen es nur verbessern, und es vor revolutionären Kräften in Schutz nehmen.
die es völlig in Frage stellen:
Siehe zum Beispiel die letzten Artikel auf rf-news, die das Wort „GEAS“ enthalten.
https://www.rf-news.de/2024/kw25/innenministerkonferenz-und-weltfluechtlingstag
https://www.rf-news.de/2024/kw25/pressemitteilung-zum-weltfluechtlingstag-2024
https://www.rf-news.de/2024/kw25/pressekonferenz-am-weltfluechtlingstag
https://www.rf-news.de/2024/kw24/kaempferische-und-kulturvolle-demonstration-fuer-fluechtlingsrechte-in-leipzig-1
https://www.rf-news.de/2024/kw23/null-toleranz-missbrauch-mannheim-attentat
https://www.rf-news.de/2024/kw23/gruss-an-die-demonstration-des-freundeskreises-fluechtlingssolidaritaet-am-8-juni
https://www.rf-news.de/2024/kw22/alle-menschen-werden-brueder-von-wegen-stoppt-geas
usw …
ivilgesellschaftliche Prioritäten für die gesetzliche Umsetzung der
Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems in
Deutschland
Berlin, 16. Juli 2024
Die unterzeichnenden Organisationen unterstützen seit Jahren geflüchtete Menschen in rechtlichen,
aufnahmebezogenen, sozialen, medizinischen und therapeutischen Belangen. Faire Asylverfahren
und menschenwürdige Aufnahmebedingungen sind unser Ziel, wie auch das der Bundesregierung.
Die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) wurde im Juni 2024 verabschiedet
und gilt ab dem Sommer 2026. Die Zivilgesellschaft hat die Reform mehrfach als starke Verschärfung
des europäischen Asylrechts kritisiert, die den Schutz von fliehenden Menschen in der EU gefährdet.
Diese Kritikpunkte bleiben auch nach dem Beschluss der Verordnungen und der Richtlinie bestehen.
Einige Mitgliedstaaten fordern bereits weitere Verschärfungen zur Auslagerung des Flüchtlingsschutzes, wodurch die neuen Regelungen politisch in Frage gestellt werden. Eine nicht
menschenrechtskonforme Umsetzung würde die Erosion rechtsstaatlicher Standards in der
EU weiter vorantreiben.
Diesem Trend sollte sich die Bundesregierung mit besonderer Sorgfalt bei der Umsetzung
entgegenstellen und die Achtung der Menschenrechte stets in den Fokus nehmen. Die
unterzeichnenden Organisationen betonen, dass EU-Recht immer entsprechend der EUGrundrechtecharta (GRCh) menschenrechtskonform angewendet werden muss und so z.B. das
Recht auf Asyl, das Recht auf Freiheit und das Recht auf einen effektiven Rechtsbehelf geachtet
werden müssen. Zudem müssen einschlägige internationale Verträge wie die UNKinderrechtskonvention oder die UN-Behindertenrechtskonvention eingehalten werden.
Für die gesetzliche Umsetzung der neuen Rechtsakte1
in Deutschland machen die unterzeichnenden
Organisationen auf folgende wichtige Punkte aufmerksam, die im Folgenden kurz ausgeführt werden:
● Starkes Menschenrechts-Monitoring
● Vulnerable Gruppen identifizieren und schützen
● Faire und sorgfältige Asylverfahren
● Unabhängige und durchgängige Asylverfahrensberatung
● Rechtsschutz stärken
● Keine Inhaftierung schutzsuchender Menschen
● Kinder schützen und unterstützen
● Menschenwürdige Aufnahme
Diese Ausführungen sind nicht abschließend und sind unter hohem Zeitdruck entstanden, um eine
frühzeitige Berücksichtigung der zivilgesellschaftlichen Expertise zu ermöglichen. Dies ersetzt
ausdrücklich nicht die angemessene Verbändebeteiligung bei Vorliegen eines Referentenentwurfs.
Für diese sollten angesichts der Komplexität der Regelungen schon jetzt mindestens zwei Wochen
eingeplant werden. Wir möchten zudem darauf hinweisen, dass die Umsetzung der Reform durch
eine angemessene Finanzierung getragen werden muss.
1 Screening-Verordnung 2024/1356 (Screening-VO), Asylverfahrensverordnung 2024/1348 (AVVO), Aufnahmerichtlinie
2024/1346 (AufnahmeRL), Verordnung über ein Asyl- und Migrationsmanagement 2024/1351 (AMM-VO), Krisenverordnung
2024/1359, Qualifikationsverordnung 2024/1347, Grenzrückführungsverordnung 2024/1349, Resettlementverordnung
2024/1350, Screening-Konsistenz-Verordnung 2024/1352, Eurodac-Verordnung 2024/1358,
Zivilgesellschaftliche Prioritäten für die gesetzliche Umsetzung der GEAS-Reform in Deutschland
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STARKES MENSCHENRECHTS-MONITORING
Das neue Erfordernis eines unabhängigen Menschenrechts-Monitorings ist eine der wenigen
positiven Regelungen der Reform. Angesichts der massiven Menschenrechtsverletzungen an den
EU-Außengrenzen braucht es starke Überwachungsmechanismen, um diesen etwas entgegensetzen
zu können. Auch auf Deutschland kommen mit dem Wechsel vom Flughafenverfahren zum neuen
Außengrenzscreening und -grenzasylverfahren große Veränderungen zu. Um hier für
menschenrechtskonforme Bedingungen zu sorgen, braucht es ein starkes Monitoring. So kann die
deutsche Umsetzung auch Vorbild für andere EU-Länder sein.
- Unabhängiger Überwachungsmechanismus: Es muss ein eigenständiger und
unabhängiger Monitoring-Mechanismus für das Screening eingerichtet werden (Art. 10 Abs. 2
Screening-VO), der sinnvollerweise auch für das ebenfalls verpflichtende Monitoring im
Asylgrenzverfahren zuständig ist (Art. 43 Abs. 4 AVVO). Eine behördliche Rechts- und
Fachaufsicht würde hierfür nicht genügen. Es sollte vielmehr durch gesetzliche Regelungen
sichergestellt werden, dass der Mechanismus unabhängig ist, vor allem hinsichtlich der
Wahrnehmung der Aufgaben, der Auswahl der Mitarbeitenden und der Finanzierung. In
Deutschland kommen das Deutsche Institut für Menschenrechte sowie die Nationale Stelle
zur Verhütung von Folter für diese Aufgabe in Frage (vgl. Art. 10 Abs. 2 UA 4 Screening-VO). - Jährlicher Bericht an den Bundestag: Die in Art. 10 Abs. 2 UA 3 Screening-VO geregelte
Befugnis des Überwachungsmechanismus, jährliche Empfehlungen an die Mitgliedstaaten
abzugeben, sollte gesetzlich dahingehend konkretisiert werden, dass die Monitoringstelle
mindestens jährlich einen Bericht über ihre Tätigkeit, Erkenntnisse und Empfehlungen an den
Deutschen Bundestag abgibt und die Bundesregierung hierzu Stellung nimmt. Nur dann ist
eine wirkliche Auseinandersetzung mit den Empfehlungen sichergestellt. - Einrichtung eines bundesweiten Konsultativforums: Art. 10 Abs. 2 UA 4 Screening-VO
sieht die enge Zusammenarbeit der nationalen Monitoringstellen mit einschlägigen
Nichtregierungsorganisationen sowie den nationalen Datenschutzbehörden und dem
Europäischen Datenschutzbeauftragten vor. Für diesen Austausch sollte ein bundesweites
Konsultativforum eingerichtet werden. Bezüglich der Abschiebungsbeobachter*innen wurden
mit den sie begleitenden Foren („Flughafenforen“) gute Erfahrungen gemacht und sie können
entsprechend als Modell übernommen werden. Dies hätte den Vorteil, dass in unmittelbarem
Austausch der fachlich kompetenten Akteure entstehende Probleme beim Grundrechtsschutz
direkt angesprochen, diskutiert und idealerweise gelöst werden können.
VULNERABLE GRUPPEN IDENTIFIZIEREN UND SCHÜTZEN
Besonders vulnerable Gruppen wie Minderjährige, Menschen mit Behinderungen, Personen, die
aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Identität verfolgt werden (LSBTI+),
Überlebende schwerer Gewalt oder Folter und Betroffene von Menschenhandel haben ein Recht auf
besondere Unterstützung, damit das Asylverfahren für sie fair ist und die Aufnahmebedingungen
angemessen. Um dies zu gewährleisten ist vor allem Folgendes notwendig: - Mindestens zweistufige Identifizierung besonderer Schutz- und Aufnahmebedarfe: Die
Zuständigkeit für die Durchführung der Vulnerabilitätsprüfung im Screeningverfahren als
Verfahrensschritt vor dem Asylverfahren muss bei den dafür zuständigen Behörden (BAMF
und für die Aufnahme zuständige Landesbehörden), nicht bei der Polizei liegen (Art. 2 Abs.
10 iVm Art. 12 Abs. 3 Screening-VO). Gesetzlich ausdrücklich zu regeln ist außerdem, dass
vor einer Verteilung auf die Bundesländer zumindest eine erste Identifizierung von
Vulnerabilitäten erfolgt sein muss und die identifizierten Vulnerabilitäten bei der Verteilung zu
berücksichtigen sind (Art. 7 Abs. 3, Art. 25 Abs. 1 AufnahmeRL iVm Art. 4 Abs. 1 b
Screening-VO). Dies gilt genauso für neu ankommende Geflüchtete, die nicht unter die
Zivilgesellschaftliche Prioritäten für die gesetzliche Umsetzung der GEAS-Reform in Deutschland
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Screening-VO fallen, weil sie etwa in einem anderen Mitgliedstaat bereits gescreent wurden
(Art. 7 Abs. 3, Art. 25 Abs. 1 AufnahmeRL). Es ist von der Möglichkeit Gebrauch zu machen,
neben der Prüfung von Aufnahmebedarfen die Länder zusätzlich mit der Ermittlung
besonderer Verfahrensgarantien nach der AVVO zu beauftragen (Art. 20 Abs. 1 S. 2 AVVO),
auch um im Bedarfsfall erneute oder zusätzliche Identifizierungsmaßnahmen einzuleiten. - Gewährleistung hoher Qualität der Identifizierung von Schutz- und
Versorgungsbedarfen: Oberste Priorität muss sein, dass eine Beteiligung von fachkundigen
Nichtregierungsorganisationen und medizinischen Fachexpert*innen bei der Konzeption und
Durchführung etwaiger Identifizierungsverfahren in jedem Verfahrensschritt gesetzlich
verankert (Art. 12 Abs. 3 S. 2 Screening-VO, bspw. auch Art. 11 Abs. 4 MenschenhandelRL)
und finanziert wird (Art. 8 Abs. 9 UA 4 Screening-VO). Eine Aufklärung zu und Vorbereitung
auf Maßnahmen der Vulnerabilitäts-Ermittlung durch unabhängige, spezialisierte
Rechtsberatung vom Anfang des Screenings an ist ebenfalls unabdingbar (Art. 11 Abs. 4
Screening-VO, Art. 15 AVVO, siehe Punkt “Unabhängige und durchgängige
Asylverfahrensberatung”). Auch die Verfahrensgarantien für die Identifizierung aus Art. 25
Abs. 1 UA 1 und Abs. 2 S. 1 AufnahmeRL (bspw. Sprachmittlung und eine detaillierte
Dokumentationspflicht der Behörden) müssen gesetzlich umgesetzt werden. - Übermittlung von Daten zwischen Behörden: Jegliche Identifizierungs-Maßnahme zu
Vulnerabilitäten muss in eine schriftliche Dokumentation münden, die der Person
ausgehändigt wird (Art. 17 Abs. 3 UA 3 Screening-VO, vgl. Art. 25 Abs. 2 S. 1 b)
AufnahmeRL). Die ermittelten Bedarfe werden unter informierter Einwilligung
datenschutzkonform nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und Datensparsamkeit an
die zuständigen Behörden übermittelt (Art. 18 Abs. 1 UA 2 ScreeningVO, Art. 20 Abs. 1 S. 3
AVVO). Es bedarf hier einer expliziten gesetzlichen Klarstellung, dass diese Behörden alle
mit der Gewährung von Aufnahme- und Verfahrensbedarfen betrauten Behörden sind. - Versorgungsanspruch aus identifizierten Schutzbedarfen: Ein Anspruch auf die
Gewährung festgestellter besonderer Bedarfe ist explizit im Gesetz festzuschreiben (Art. 25
Abs. 2 S. 2 AufnahmeRL). Eine den ermittelten Bedarfen entsprechende Unterbringung und
gesundheitliche Versorgung gemäß der AufnahmeRL erfordern eine rechtliche Festlegung,
welche Leistungen aufgrund des Bedarfs gewährt werden. Dazu muss der entsprechende
Leistungsumfang und der Kostenträger gesetzlich eindeutig bestimmt werden. Dies betrifft
unter anderem eine geeignete psychologische Betreuung für Überlebende schwerer Gewalt
oder Folter (Art. 22, 28 AufnahmeRL), Teilhabe- und Pflegeleistungen für Menschen mit
Behinderung (Art. 19 Abs. 2 AufnahmeRL iVm Art. 26 GRCh, Art. 22, Art. 25 Abs. 2 S. 2
AufnahmeRL) sowie bedarfsgerechte Unterbringung (Art. 20, Art. 26 AufnahmeRL). Auch die
Kostenübernahme für erforderliche Sprach- und Kulturmittlung muss gesetzlich verankert
werden.
FAIRE UND SORGFÄLTIGE ASYLVERFAHREN
Faire und sorgfältige Asylverfahren sind der Schlüssel dafür, dass verfolgte Menschen Schutz
bekommen. In Deutschland gibt es – trotz bestehender Kritikpunkte – grundsätzlich einen hohen
Standard im Asylverfahren, der zu halten ist. Wenn die Asylverfahren nicht gut funktionieren, dann
verlagert sich die Arbeit im Zweifelsfall auf die Gerichte und führt dort zu Überlastung. - Anpassung des deutschen Asylgesetzes: Statt das Asylgesetz durch Streichungen zu
verkomplizieren, sollte es gemäß der GEAS-Reform angepasst werden. Dies betrifft neben
den Verfahrensnormen auch die Definitionen von „Familie“ und „Familienangehörigen“,
schutzbietenden Akteuren, internem Schutz und dem Verfolgungsgrund „Zugehörigkeit zu
einer bestimmten sozialen Gruppe“. Eine solche Verfahrensweise wäre auch mit der EuGHRechtsprechung vereinbar, insbesondere da die Reform ohnehin nationale
Umsetzungsspielräume beinhaltet.
Zivilgesellschaftliche Prioritäten für die gesetzliche Umsetzung der GEAS-Reform in Deutschland
5 - Keine neuen “sicheren Drittstaaten”: Zulässigkeitsentscheidungen im Asylverfahren
bleiben optional für Mitgliedstaaten (Art. 38 AVVO). Abgesehen von dem separaten DublinRegime, spielen Unzulässigkeitsentscheidungen wegen angeblich sicherer Drittstaaten in
Deutschland bislang keine Rolle. Es ist auch nicht zielführend, durch neue „sichere
Drittstaaten“ eine andere Praxis aufzubauen, da dies praktisch nur sehr schwer durchsetzbar
sein würde und die Asylverfahren bzw. den Zugang zu Schutz stark verzögern würde. Dies
ergibt sich aus den Stellungnahmen der Sachverständigenanhörungen des BMIs. - Keine Ausweitung von o.u.-Entscheidungen oder “sicheren Herkunftsstaaten”: Durch
Art. 42 AVVO werden in vielen Fällen beschleunigte Asylverfahren zur Pflicht. Dies bedeutet
auch kürzere Klagefristen (vgl. Art. 67 Abs. 7 a) AVVO) und keine aufschiebende Wirkung der
Klage (vgl. Art. 68 Abs. 3 a) i) AVVO), was bereits eine große Benachteiligung für die
Betroffenen und eine nicht zu unterschätzende Herausforderung für Anwält*innen wäre. Da
die Regelung nur „unbeschadet des Grundsatzes der Nichtzurückweisung“ gilt und dieser
eine aufschiebende Wirkung von Rechtsbehelfen erfordert, muss aber auch in diesen Fällen
die aufschiebende Wirkung der Regelfall sein. Die Bundesregierung sollte die Rechtslage
nicht weiter verschärfen und keine weiteren o.u.-Gründe einführen oder neue „sichere
Herkunftsstaaten“ benennen, insbesondere nicht wenn bestimmte Teilgebiete oder
Personengruppen (z.B. LSBTI+) in dem Land eindeutig nicht sicher sind (vgl. BVerfG).
UNABHÄNGIGE UND DURCHGÄNGIGE ASYLVERFAHRENSBERATUNG
Eine unabhängige Asylverfahrensberatung ist ein entscheidender Faktor für faire Asylverfahren und
wirkt sich auch positiv auf die Abläufe im Asylverfahren aus. Entsprechend gut sollten die
Möglichkeiten der Verordnungen für ein starkes Beratungssystem genutzt werden. Eines der Ziele der
Reform ist es, Rechtsberatung durchgängig in allen Verfahrensstadien zu gewährleisten. - Asylverfahrensberatung weiterhin gesetzlich verankern: Die Garantie einer
angemessenen und unabhängigen Rechtsberatung ist unter Berücksichtigung der unlängst
eingeführten Asylverfahrensberatung (§12a AsylG) als konkretisierende bundesgesetzliche
Regelung des Art. 15 Abs. 3 AVVO weiterhin gesetzlich zu verankern. Diese muss sowohl die
unabhängige Asylverfahrensberatung als auch die besondere Rechtsberatung für vulnerable
Personen in allen Verfahrensschritten sicherstellen. Neben der gesetzlichen Regelung muss
die ausreichende Bundesfinanzierung sichergestellt werden, um den tatsächlichen Zugang
gewährleisten zu können. - Rechtsberatung von Anfang an und überall: Der Zugang sowohl zur unabhängigen
Asylverfahrensberatung als auch zur besonderen Rechtsberatung für vulnerable Personen
muss explizit bereits im Screeningverfahren und auch im Grenzverfahren sichergestellt
werden. Gerade wenn Asylsuchende sich nicht frei bewegen dürfen, ist es essentiell, dass
Beratungsorganisationen uneingeschränkten Zugang zu den Einrichtungen haben. Bezüglich
des Screenings sollte geregelt werden, dass Informationen durch NGOs erteilt werden (Art.
11 Abs. 4 Screening-VO). - Rechtliche Unterstützung ohne Ausnahmen garantieren: Art. 19 Abs. 2, Abs. 3 iVm Art.16
Abs. 3 und Art.17 Abs. 2 AVVO gibt Mitgliedstaaten die Möglichkeit, den Rahmen der
Rechtsauskunft, -beratung und -vertretung näher auszugestalten. Bei der Ausgestaltung
sollte ein uneingeschränktes Recht auf Unterstützung für alle Antragstellenden verankert
werden, unabhängig von der finanziellen Situation der Antragstellenden und unabhängig von
der Erfolgsaussicht oder der Instanz der rechtlichen Unterstützung.
RECHTSSCHUTZ STÄRKEN
Nur mit einem funktionierenden Rechtsschutz können wir von einem fairen Asylsystem sprechen.
Schon jetzt arbeiten Rechtsanwältinnen und Richterinnen in Deutschland unter hohem Druck. Um
Zivilgesellschaftliche Prioritäten für die gesetzliche Umsetzung der GEAS-Reform in Deutschland
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den effektiven Rechtsschutz zu garantieren, sollten folgende Punkte bei der Umsetzung
berücksichtigt werden: - Angemessene Fristen für den Rechtsschutz: Bezüglich der Rechtsschutzfristen wird den
Mitgliedstaaten ein gewisser Spielraum zugestanden, den Deutschland positiv nutzen sollte,
um effektive Rechtsvertretung zu ermöglichen. So sollte für Entscheidungen nach einem
beschleunigten Prüfverfahren eine Frist von zehn Tagen für den Rechtsbehelf und bei einer
Entscheidung in anderen Fällen eine Frist von einem Monat festgelegt werden (vgl. Art. 67
Abs. 7 AVVO). - Angemessene Dauer des Rechtsbehelfsverfahrens: Laut Art. 69 AVVO sollen die
Mitgliedstaaten angemessene Fristen für das Rechtsbehelfsverfahren in erster Instanz
festlegen, wobei ebenso festgehalten wird, dass dies eine angemessene und vollständige
Prüfung des Rechtsbehelfs nicht beeinträchtigen darf. Bei der MPK im November 2023 wurde
eine Frist von sechs Monaten diskutiert. Dies geht jedoch an der Realität vieler
Verwaltungsgerichte vorbei und würde einen Druck verursachen, der zu Lasten sorgfältiger
Prüfungen gehen könnte. Anstatt enge Fristen gesetzlich zu regeln – an die Richter*innen
letztlich nicht gebunden sind – sollte eine bessere personelle Ausstattung der Gerichte
sichergestellt werden, die eine sorgfältige und schnelle Bearbeitung gewährleistet. - Rechtsmittel zur Überprüfung der Außengrenz-Screeningentscheidung normieren:
Effektiver Rechtsschutz iSd Art. 13 EMRK und Art. 19 Abs. 4 GG setzt voraus, dass sich
Betroffene auch gegen die Screeningentscheidung wehren können, wenn es um die Zuteilung
zum Außengrenzverfahren geht. Aus Sicht der Organisationen müssen die Mitgliedstaaten
deshalb auch einen Rechtsbehelf zur Überprüfung der Entscheidung vom
Außengrenzscreening schaffen. Die Bundesregierung sollte deshalb bereits jetzt aus
Gründen der Rechtsklarheit und des effektiven Rechtsschutzes einen konkreten Rechtsbehelf
normieren. Dieser Rechtsbehelf sollte auch gegen Altersangaben, negativ entschiedene
vorläufige Vulnerabilitätsprüfungen und die Verpflichtung zum Verbleib im Grenzverfahren
einschlägig sein.
KEINE INHAFTIERUNG SCHUTZSUCHENDER MENSCHEN
Die unterzeichnenden Organisationen befürchten, dass die Reform durch das Außengrenz-Screening
und neue Grenzverfahren zur (de facto) Inhaftierung von Schutzsuchenden führen wird, was ihre
psychische Belastung erhöhen und faire Asylverfahren erschweren würde. Allein die Tatsache, dass
die asylsuchende Person theoretisch ausreisen könnte – und damit auch ihren Asylantrag
zurückziehen würde -, reicht nicht, um eine Freiheitsentziehung tatbestandlich zu verneinen. Letztlich
kommt es nicht auf die Bezeichnung an, sondern auf die tatsächlichen Umstände. Besonders
problematisch sind Situationen der de facto Inhaftierung, in denen den Personen Richtervorbehalt und
Klagemöglichkeiten vorenthalten werden. - Keine Haft während des Screenings: Gem. Art. 6 und Art. 7 Abs. 1 Screening-VO müssen
die Mitgliedstaaten Regeln erlassen, um sicherzustellen, dass die Personen sich dem
Screening nicht entziehen. Hierfür sollten klare Alternativen zur Haft wie Meldeauflagen
festgelegt werden, da die Inhaftierung stets nur als letztes Mittel angewendet werden darf
(vgl. ErwG. 11 und Definition der Inhaftnahme in Art. 2 Abs. 12 Screening-VO). Gerade beim
Screening im Inland ist auch nicht mit Fluchtgefahr zu rechnen – denn die Menschen wollen in
Deutschland ihr Asylverfahren durchlaufen. Somit wären auch keine Einschränkungen der
Bewegungsfreiheit gerechtfertigt. - Keine (de facto) Haft während des Grenzverfahrens: Asylsuchende dürfen nicht inhaftiert
werden, nur weil sie einen Asylantrag gestellt haben oder aus einem bestimmten Staat sind.
Die Möglichkeit, Asylsuchende während des Grenzverfahrens zu inhaftieren, ist vor diesem
Hintergrund und angesichts der vorgesehenen Dauer der Grenzverfahren mehr als
Zivilgesellschaftliche Prioritäten für die gesetzliche Umsetzung der GEAS-Reform in Deutschland
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fragwürdig (Art. 10 Abs. 4 d AufnahmeRL). Auch eine Einschränkung der Bewegungsfreiheit –
z.B. durch Beschränkung auf eine Unterbringung – muss individuell begründet werden, z.B.
mit Fluchtgefahr (Art. 9 Abs. 1 AufnahmeRL). Eine Fluchtgefahr ist idR nicht anzunehmen,
wenn die Menschen in Deutschland Asyl bekommen wollen. - Keine Inhaftierung bei der Gefährdung von vulnerablen Personen: Die Inhaftierung von
Schutzsuchenden mit besonderen Bedürfnissen ist ausgeschlossen, wenn die Haft ihre
körperliche und psychische Gesundheit ernsthaft gefährdet (Art. 13 Abs. 1 UA 2
AufnahmeRL). Dieser Ausschlussgrund muss explizit gesetzlich geregelt werden. Für die
effektive Umsetzung bedarf es einer von Amts wegen zu erfolgenden ärztlichen und
psychologischen Untersuchung vor Inhaftnahme, um die etwaige Gesundheitsgefährdung zu
prüfen. Kinder sollten nie inhaftiert werden, da eine Haft im Asylverfahren dem Kindeswohl
immer zuwiderläuft (vgl. ErwG. 31 und 40 sowie Art. 13 Abs. 2 und Art. 26 AufnahmeRL). - Haftbedingungen: Die Inhaftierung von Asylsuchenden darf keinen Strafcharakter haben
(Art. 10 Abs. 1 S. 3 AufnahmeRL). Daher ist zwingend eine gesonderte Unterbringung nötig,
die sich von Strafhaft unterscheidet (z.B. eigene Kleidung, Mobiltelefonnutzung). Inhaftierte
Schutzsuchende müssen Beratung und Besuch empfangen können und Einschlusszeiten
sollten minimal sein. Die Höchstfristen für die Überprüfung der Haftanordnung gemäß Art. 10
Abs. 3 UA 1 AufnahmeRL müssen gesetzlich verankert werden.
KINDER SCHÜTZEN UND UNTERSTÜTZEN
Kinder und Jugendliche gehören zu den besonders vulnerablen Personen und haben spezielle
Bedarfe und Rechte, die berücksichtigt werden müssen. Ihre besonderen Rechte, allen voran das
Kindeswohl, müssen zu jeder Zeit gewährleistet sein, egal woher ein Kind kommt oder welchen
Aufenthaltsstatus es hat. Dies muss sich auch bei der Umsetzung der GEAS-Reform durchsetzen.
Dabei gilt es insbesondere folgende Punkte zu beachten: - Primäre Zuständigkeit der Kinder- und Jugendhilfe für unbegleitete minderjährige
Geflüchtete: In Deutschland gilt das Primat der Jugendhilfe nach SGB VIII. Die öffentlichen
Träger der Kinder- und Jugendhilfe sind vorrangig für die Unterbringung, Versorgung und
Vertretung von unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten zuständig. Die vorläufige
Inobhutnahme erfolgt durch die Jugendämter und die Feststellung besonderer Schutzbedarfe
muss ausschließlich im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe verbleiben. Der
Alterseinschätzung bei unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten (als Zugangsvoraussetzung für den Minderjährigenschutz) kommt in diesem Kontext eine besondere
Bedeutung zu. Sie muss daher zwingend in der Verantwortung der Jugendämter bleiben. - Zulässigkeitsentscheidung: Bei der Überstellung von Minderjährigen ist Art. 24 GRCh zu
beachten. Unbegleitete minderjährige Geflüchtete sollten daher nie überstellt werden, es sei
denn dies dient nachweislich dem Kindeswohl. - Keine segregierte Beschulung: Minderjährige haben den gleichen Zugang zu Bildung wie
deutsche Staatsangehörige und sind mit ihnen in einer Schule zu unterrichten (Art. 16
AufnahmeRL). Es muss gewährleistet sein, dass minderjährige Schutzsuchende
schnellstmöglich in das reguläre Schulsystem aufgenommen werden. Die ausschließliche und
segregierende Beschulung in Unterbringungszentren und/oder Willkommensklassen ist mit
der neuen AufnahmeRL unvereinbar. Die Schulgesetze der Länder müssen dies normieren.
SCHUTZSUCHENDE MENSCHENWÜRDIG VERSORGEN
In Deutschland asylsuchende Menschen müssen menschenwürdig versorgt und aufgenommen
werden. Dies ist auch Grundlage dafür, dass das Erlernen der Sprache, die Arbeitssuche und
letztendlich die gesellschaftliche Teilhabe gelingen können. Ein ausgrenzendes Sondergesetz, wie
Zivilgesellschaftliche Prioritäten für die gesetzliche Umsetzung der GEAS-Reform in Deutschland
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das Asylbewerberleistungsgesetz, verletzt nach Sicht der unterzeichnenden Organisationen die
Menschenwürde und muss abgeschafft werden. Bis das geschieht, sind angesichts der neuen
Aufnahmerichtlinie vor allem folgende Änderungen vorzunehmen: - Asylbewerberleistungsgesetz als absolutes Minimum: Die Leistungen nach dem AsylbLG
liegen auf dem niedrigsten Niveau, das geleistet werden muss, um ein menschenwürdiges
Leben entsprechend Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 34 Abs. 3 GRCh zu gewährleisten. Die bereits
bestehenden Sanktionen nach dem AsylbLG sind verfassungs- und europarechtswidrig. Auch
die Aufnahmerichtlinie gibt klar vor, dass für alle Geflüchteten ein der Charta und
internationalen Verpflichtungen entsprechender Lebensstandard und voller Zugang zu
Gesundheitsleistungen des Art. 22 ohne Ausnahme zu gewähren ist (Art. 23 Abs. 4 S. 3
AufnahmeRL). Die Kürzungen des AsylbLG sind somit abzuschaffen und es dürfen keine
neuen eingeführt werden. Dies gilt insbesondere auch bei “Dublin-Entscheidungen” (Art. 18
Abs. 1 UA 2 AMM-VO, Art. 21 Abs. 1 S. 2 AufnahmeRL). - Anpassung der Gesundheitsleistungen und elektronische Gesundheitskarte: Die
Ergänzungen zu Gesundheitsleistungen nach Art. 22 AufnahmeRL, einschließlich der
Gesundheitsversorgung im Bereich reproduktiver und sexueller Gesundheit sowie Heil- und
Hilfsmittel, sollten konkret im deutschen Sozialgesetz verankert werden. Ein behördliches
Ermessen und Antragsverfahren, wie nach § 6 AsylblG vorgesehen, ist nicht mit Art. 22 Abs.
3 der Richtlinie vereinbar. Um Verfahren zu entbürokratisieren und eine angemessene
Qualität der medizinischen Versorgung sicherzustellen (vgl. Art. 22 Abs. 1 S. 3 AufnahmeRL),
sollte für alle Geflüchteten flächendeckend die elektronische Gesundheitskarte (EGK)
eingeführt werden. Dies gilt insbesondere bei Kindern, die nach der neuen AufnahmeRL
Anspruch auf dieselbe Art der Gesundheitsversorgung haben wie Staatsangehörige (Art. 22
Abs. 2 AufnahmeRL). - Zweifel an Bezahlkarte: Aus den Vorgaben der AufnahmeRL, insbesondere Art. 19 Abs. 2,
ergeben sich erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Bezahlkarte in ihrer aktuellen
Form. Die starke Einschränkung der ökonomischen Autonomie gewährleistet keinen
„angemessenen Lebensstandard“ im Sinne des Art. 19 Abs. 2 AufnahmeRL. Geflüchteten
muss “ein Mindestmaß an Eigenständigkeit” ermöglicht werden, was durch die Bezahlkarte
nicht erreicht wird (ErwG. 8 S. 1 AufnahmeRL). Eine Kombination aus Gutscheinen, Sachund Geldleistungen ist zwar zulässig, solange ein Geldbetrag enthalten ist (ErwG. 8 S. 2
AufnahmeRL). Ein symbolischer Betrag von 50 Euro im Monat, der Geflüchtete vom sozialen
Leben ausschließt, erfüllt die Mindeststandards der AufnahmeRL jedoch voraussichtlich nicht.
Zivilgesellschaftliche Prioritäten für die gesetzliche Umsetzung der GEAS-Reform in Deutschland
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Unterzeichnende Organisationen (alphabetisch)
Amnesty International Deutschland e.V.
Arbeitsgemeinschaft Migrationsrecht im Deutschen Anwaltverein
Ärzte der Welt e.V.
AWO Bundesverband e.V.
BumF e.V.
Bundesweite Arbeitsgemeinschaft Psychosozialer Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer – BAfF e.V.
Bundesarbeitsgemeinschaft PRO ASYL e.V.
Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband – Gesamtverband e.V.
Deutsches Kinderhilfswerk e.V.
Diakonie Deutschland Evangelisches Werk für Diakonie und Entwicklung e.V.
Die Sputniks e.V. Vereinigung russischsprachiger Familien mit Kindern mit Beeinträchtigungen in
Deutschland
Fachstelle Kinderwelten für Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung
Handicap International e.V.
Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland e.V. (ISL)
Jesuiten-Flüchtlingsdienst Deutschland
Jugendliche ohne Grenzen in Deutschland e.V.
Kindernothilfe e.V.
KOK – Bundesweiter Koordinierungskreis gegen Menschenhandel e.V.
Landesflüchtlingsräte
Lesben- und Schwulenverband Deutschland e.V.
National Coalition Deutschland – Netzwerk zur Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention
Neue Richter*innenvereinigung e.V. (NRV)
Republikanischer Anwältinnen und Anwälteverein e.V. (RAV)
Save the Children e.V.
SOS-Kinderdorf e.V.
terre des hommes Deutschland e.V