Offener Brief zum Polizeiskandal in Essen

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Offener Brief zum Polizeiskandal in Essen

Ministerium des Innern des Landes NRW
Herrn Innenminister Herbert Reul
Friedrichstraße 62-80
40217 Düsseldorf
vorab per E-Mail an: herbert.reul@im.nrw.de

Sehr geehrter Herr Innenminister Reul,

wir sind schockiert über die am 16.09.2020 erstmals öffentlich bekannt gewordenen Enthüllungen über WhatsApp-Gruppen, in denen nordrhein-westfälische Polizeibeamt:innen seit 2013 rechtsextreme Inhalte verbreiteten und Bilder austauschten, u.a. von Hitler, geflüchteten Menschen in Gaskammern sowie der Erschießung schwarzer Menschen. Kurz darauf wurde ein
internes Papier der Essener Polizei in Form einer Broschüre öffentlich, das rassistische Stereotype reproduziert und Grundlage für eine menschenverachtende Polizeipraxis gegenüber den sogenannten „Clan-Familien“ darstellt.

Im internen Papier „ARABISCHE FAMILIENCLANS – Historie. Analyse. Ansätze zur Bekämpfung.“, das offenbar als Schulungsbroschüre dient, heißt es – um nur ein Beispiel von
vielen zu nennen – „Auf eine stetige Abgrenzung zwischen Clanmitgliedern, die kriminell in Erscheinung getreten und solchen, die es nicht sind, muss an dieser Stelle verzichtet werden.“ Diese Aufforderung wirkt auf uns wie eine Anleitung, Menschen aufgrund ihrer Herkunft systematisch zu kriminalisieren, in Sippenhaft zu nehmen und zu schikanieren.

Das ist für uns keine Überraschung: In Essen werden seit Jahren Vorwürfe über rassistische Polizeipraxis laut. Diese Zustände sind nicht länger hinnehmbar. Deshalb wenden wir uns heute
in einem offenen Brief an Sie, damit die Vorkommnisse der letzten Wochen und Jahre endlich personelle und strukturelle Konsequenzen haben.

Unserem Verständnis nach sollte es im Jahr 2020 als selbstverständlich gelten, Rassismus, rechtsextremes Gedankengut und Diskriminierung nicht hinzunehmen, sondern sie aktiv zu bekämpfen. Wir dürfen als Gesellschaft an diesem Punkt aber nicht nachlässig sein.

Die Erfahrungen der letzten Monate und Jahre sollten uns außerdem gezeigt haben, dass wir schon lange über den Punkt hinaus sind, an dem wir noch an Einzelfälle glauben können. Es handelt sich offensichtlich um eng vernetzte Gruppierungen und Strukturen innerhalb der Polizei.

Es muss geprüft werden, inwieweit unbeteiligte Beamt:innen von den Vorfällen wussten, diese aber aufgrund des in der Polizei vorherrschenden Korpsgeistes nicht den entsprechenden
Stellen gemeldet haben. Auch Beamt:innen, die sich nicht in rechtsextremen Chatgruppen bewegen und von diesen keinerlei Kenntnis hatten, müssen geprüft werden, ob sie sich im alltäglichen Dienst rassistisch verhalten. Wir können einem exekutiven Organ als Gesellschaft nicht so viel Macht anvertrauen, ohne es regelmäßig auf die Einhaltung unseres offenen, menschenfreundlichen und antirassistischen Konsenses zu überprüfen. Wenn sich innerhalb unserer Sicherheitsorgane ein Eigenleben entwickelt, dann besteht ganz klar eine Gefahr für
die Demokratie in unserem Land.

Nicht erst seit der auch in Deutschland immer größer werdenden Black Lives Matter-Bewegung, werden immer mehr Stimmen von Menschen laut, die von Polizeigewalt und strukturellem Rassismus seitens der Behörden betroffen sind, deren Aufgabe es eigentlich sein soll und muss, jedes Menschenleben als schützenswert zu erachten und diesen Schutz auch durchzusetzen.

Wir müssen endlich anfangen, Betroffenen zuzuhören, die immer und immer wieder von Racial Profiling, rassistischer Gewalt und Beleidigungen durch Beamt:innen berichten. Leugnungen, Bestürzungsbekundungen und Pressekonferenzen reichen nicht aus. Es müssen Taten folgen, um die offensichtlichen Missstände zu beheben.

Bundesinnenminister Horst Seehofer hat sich klar gegen eine bundesweite Studie zum Thema „Racial Profiling“ innerhalb der Polizei positioniert. Wir fordern Sie dazu auf, zumindest in unserem Bundesland eine ausführliche Untersuchung von unabhängigen Expert:innen durchführen zu lassen. Die immer wieder zufällig ans Licht kommenden Skandale zeigen ganz klar:
Die Aufarbeitung muss von außen kommen und darf nicht den inneren Strukturen der Polizei überlassen werden.

Die Datenlage zur Verbreitung rechtsextremem und rassistischem Gedankenguts in der Polizei ist bislang mager und darüber hinaus veraltet. Wir müssen Expert:innen, wie z.B. Herrn Prof. Dr. Tobias Singelnstein, Kriminologe an der Ruhruniversität Bochum, zuhören, die Forschungsdefizite beklagen. Im Interview mit dem Deutschlandfunk Kultur am 17.09.2020 äußerte er beispielsweise, dass die meisten existierenden Untersuchungen noch aus den 90erJahren stammten. Diese Studien hätten bereits damals bei 5 bis 20 Prozent der Beamten rassistische und rechtsextreme Einstellungen gezeigt.

Konkret fordern wir:

• Sowohl Essens Polizeipräsident Frank Richter als auch seine, als Extremismusbeauftragte ins Amt gehobene, Frau Silvia Richter müssen zurücktreten. Sollte es nicht zu einem Rücktritt kommen fordern wir eine Absetzung. Es ist schlichtweg nicht akzeptabel, dass sich derartige Strukturen mindestens 5 Jahre unter Frank Richters Aufsicht (weiter)entwickeln konnten und unbemerkt blieben. Zu Silvia Richter bleibt zu sagen, dass sie ein beschämendes Bild einer Extremismusbeauftragten abgibt, da die genannten Vorfälle nur per Zufall und nicht durch ihren Einsatz im Kampf gegen ebendiesen Extremismus ans Licht kamen.

• Nehmen Sie Stellung zu der oben genannten Schulungsbroschüre, die unter der wissenschaftlichen Leitung von Frau Dr. Dorothee Dienstbühl entstand und erklären Sie
uns, warum es für die Polizei scheinbar unproblematisch ist, derart diskriminierende und rassistische Narrative für Schulungszwecke zu nutzen.


• Leiten Sie Studien und Untersuchungen zu Racial Profiling, Rassismus und der Verbreitung rechtsextremistischem Gedankenguts innerhalb der nordrhein-westfälischen
Polizei ein – und zwar von unabhängigen und objektiven Expert:innen und Ermittler:innen.

Eine Initiative von Aufstehen gegen Rassismus Essen.

Mit Unterstützung von:
Alibi Essen
Anti-Rassismus-Telefon Essen
attac Essen
Black Community Foundation Essen
BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Mülheim an der Ruhr
DIE LINKE. Essen
DIE LINKE. Mülheim an der Ruhr (Kreisvorstand)
Extinction Rebellion Essen
Fridays for Future Essen
Fridays for Future Mülheim
Jugendwerk der AWO Essen
Linksjugend [’solid] Essen
Migrantifa NRW
Poly Push Kollektiv
SJD / Die Falken Essen