Wind, Flaute oder Sturm

Klimaneutralität jetzt / mit Helge Peukert

Mit Prof. Dr. Helge Peukert (Uni Siegen, Initiative Ökosozialismus)

Moderation: Dr. Didem Aydurmuş (Bilgi Universität),

Ökologische Plattform, Mitglied des Parteivorstands DIE LINKE

Das weltweite CO2-Budget, um die Erderwärmung in noch einigermaßen zu bewältigenden Grenzen zu halten, ist bereits aufgebraucht! Helge Peukert, Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Uni Siegen, bietet in seinem Buch „Klimaschutz jetzt!“ eine sehr detaillierte Analyse der bisherigen Klimapolitik auf internationaler, europäischer und nationaler Ebene und zeigt deren Unzulänglichkeiten und Widersprüche auf. Seine Schlussfolgerung: Was jetzt nottut, ist eine Notbremse! Im Schlusskapitel seines Buches skizziert Peukert, wie eine „geordnete Schrumpfung“ gestaltet werden kann. Die Schaffung eines öffentlichen sozial-ökologischen Arbeitsmarktes, die Bereitstellung eines „bedingten Grundeinkommens“, ein wachstumsunabhängiges von der Zentralbank ausgegebenes „Schenkgeld“ – das sind einige Grundelemente einer radikalen Umstellung unserer Ökonomie.


jw vom 10.11.2021, Grüner Kapitalismus

»Politik hängt am Tropf des Finanzsektors«

Klimakonferenz in Glasgow ist Totalversagen. Regierende bedienen Kapitalinteressen. Ein Gespräch mit Helge Peukert Von Raphaël Schmeller

imago images/ZUMA Press. Nichts außer »Blabla«: Protestplakate gegen die UN-Weltklimakonferenz in Glasgow (7.11.2021)

Helge Peukert ist Professor für Plurale Ökonomik an der Universität Siegen. Zuletzt erschien von ihm das Buch »Klimaneutralität jetzt! Politiken der Klimaneutralität auf dem Prüfstand« (Metropolis-Verlag, Marburg 2021, 514 Seiten, 19,80 Euro)

Laut aktuellen Zahlen ist der globale CO2-Ausstoß 2021 wieder auf dem Niveau wie vor der Pandemie. Wie hoch ist das weltweite und das deutsche Restbudget an CO2-Emissionen?

Laut jüngstem Bericht des Weltklimarats IPCC dürfen, um die Erderwärmung auf 1,5-Grad zu begrenzen, ab 2022 weltweit noch 230 Gigatonnen CO2 emittiert werden. Dabei schließen wir Kipppunkte, die Kühlung über bald sinkende Aerosole, beispielsweise Rußpartikel, und anderes noch aus. Bei Gleichverteilung auf alle Menschen wären dies für Deutschland 2,3 Gigatonnen und pro Person 12,5 Tonnen absolutes Restbudget. Pro Jahr verursacht man pro Person hierzulande aber über neun Tonnen. Das verschärfte deutsche Klimaschutzgesetz, das bereits dieses Jahr nicht eingehalten wird, läuft auf 9,7 Gigatonnen hinaus.

Was läuft international, um das 1,5-Grad-Ziel zu erreichen? Stichwort Pariser Abkommen, Klimakonferenz in Glasgow.

Beim Pariser Abkommen können die Länder ohne jegliche Sanktionen bei Nichteinhaltung angeben, was sie klimapolitisch anstreben und wie das gemessen und erreicht werden soll. Verbindliche Ziele und eine koordinierte Strategie gibt es nicht. Bei Einhaltung landen wir bestenfalls bei drei Grad Erderwärmung. Damit steht das Leben von Milliarden Menschen, wenn nicht unserer Zivilisation auf dem Spiel.
Die Verhandlungen in Glasgow setzen das Totalversagen fort. Es macht mich wütend, die Reden der Politiker zu vernehmen, die wie Boris Johnson neue Ölfelder erschließen und Kohlekraftwerke bauen lassen oder wie unsere kommissarische Bundeskanzlerin, die in Brüssel klammheimlich als Abschiedsgeschenk ihre Zustimmung gab, dass Erdgas und Atomkraft unter das geplante grüne Label der EU-Taxonomie fallen können.

Warum treffen diese Politiker Ihrer Meinung nach, trotz der dramatischen Lage, solche Entscheidungen?

Politiker in Konsumdemokratien hängen im Rahmen des Steuerstaates am Tropf einer wachsenden Wirtschaft und eines gnädigen Finanzsektors, der die Staatsanleihen abkauft. Sie müssen trotz großer Worte zahm sein und eine Zweckgemeinschaft mit den Inhabern ökonomischer Macht eingehen. Ihre Abhängigkeit hat nach Deregulierungen und Globalisierung noch zugenommen. Unser Wirtschaftssystem ist eine Konkurrenz- und Gewinnwirtschaft, die auf Wachstum, kontinuierlich hohem Konsum, Beschleunigung, Landnahme, Externalisierungen von Kosten, ständigen Innovationen mit wiederum unerwünschten Nebeneffekten und vielen Reboundeffekten beruht. Werden über Klimakompensationsprojekte effizientere Holzöfen in Asien gefördert, sparen die Menschen dort Geld, das dann in Mofas investiert wird. Es gibt eine systemimmanente Steigerungsdynamik und damit einen prinzipiellen Widerspruch zu natürlichen Kreisläufen des Erdsystems. Das Kapital muss beschleunigen, in der Natur braucht alles seine Zeit.

Warum halten Sie Vorschläge wie die von den Grünen angestrebte E-Mobilität für falsch?

Die Entkoppelung von Emissionen und ständigem Wirtschaftswachstum ist nicht möglich. 1990 betrug der Anteil fossiler Energieträger 80 Prozent, bis 2019 hat sich an diesem Prozentsatz nichts geändert. Da auf absehbare Zeit zu wenig Ökostrom zur Verfügung stehen wird, führt jeder erhöhte Strombedarf zur Zuschaltung von fossilem Differenzstrom, meist aus Kohlekraftwerken, wie gerade auch in Deutschland. Jedes Elektroauto erhöht diesen Strombedarf und fährt daher auf fossiler Grundlage. Hinzu kommen die hohen Emissionen aus der Batterieproduktion. E-Autos verursachen um die 40 Tonnen CO2 über den Lebenszyklus. Für eine Windkraftanlage müssen rund 50.000 Tonnen Erde und Gestein neofeudal im globalen Süden zerkleinert werden. Alleine das Stahlwerk von Thyssen-Krupp in Duisburg bedürfte auf Basis grünen Wasserstoffs des Betriebs von 3.500 Windrädern.

Was muss für eine Begrenzung der Erderwärmung auf 1,5 Grad dann getan werden?

Es müssten Dinge passieren, die auch alle im EU-Programm »Fit for 55« fehlen: Eine absolute Reduktion des Auto-, Schiffs- und Flugverkehrs, die Nutzung von 30 Prozent der Straßen für innerstädtischen Radverkehr, ein verbindlicher Ausbau eines verbilligten ÖPNV mit engmaschigen Takten, Tempolimits, Straßenrückbau, kostenlose Sammeltaxis usw. Weltweit müssten die 1.000 größten Kohlekraftwerke abgeschaltet werden. Es bräuchte ein Weltkartell mit den Ländern der größten fossilen Energievorkommen, die ab sofort die Produktion drosseln müssen und dafür kompensiert werden. Denn der Emissionshandel verteuert zwar in Europa fossile Energieträger, aber es gibt genug Nachfrager, die sich über die dann gesunkenen Preise freuen werden. Und die Produzenten werden alle fossilen Öl-, Gas- und Kohlevorräte zu Schleuderpreisen raushauen, wenn sich der erfolgreiche Übergang zu erneuerbaren Energien abzeichnen sollte. Zusammenfassend: Ohne zentrale Veränderungen der heutigen Systemarchitektur bis hin zu den Eigentumsverhältnissen und der Staatsfinanzierung werden wir tatsächlich den Klimakollaps nicht verhindern können.

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